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HENNING MEYER, 40, ist Berater und Chefredakteur von Social Europe. Er analysiert in jeder Ausgabe die Entwicklungen der EU im Wahljahr. Magazin Mitbestimmung

Fokus Europa: Die einzige Chance

Ausgabe 03/2019

Die Volksparteien CDU und SPD sind die Verlierer der Europawahl. Am Beispiel der SPD lässt sich zeigen, warum es schwieriger wird, den politischen Raum für sozialdemokratische Politik zu besetzen. Von Henning Meyer

Die Europawahlen sind absolviert und die gute Nachricht gleich zum Anfang: Die Befürchtung eines kontinentweiten Rechtsrucks hat sich zum Glück nicht bewahrheitet. Zwar gab es in einigen Ländern, allen voran in Italien, einen deutlichen Zuwachs der Stimmen, die an Rechtspopulisten gingen, von einem allgemeinen Trend kann man aber nicht sprechen. Damit hören die guten Nachrichten aber schon auf. Vor allem, wenn man auf das Abschneiden der beiden traditionellen Volksparteien CDU und SPD in Deutschland schaut. 

In meiner letzten Kolumne habe ich beschrieben, wie vor allem junge, netzaffine Bürger durch das europäische Vorgehen der Volksparteien politisiert wurden – im negativen Sinne. Dass sich durch das Durchpeitschen der verfehlten Urheberrechtsreform keine neuen Jungwähler gewinnen lassen würden, war abzusehen. Aber die Art und Weise, in der das Video des YouTubers Rezo, der auch in der Urheberrechtsdebatte aktiv war, durchgeschlagen ist, hat wohl jeden überrascht. Inzwischen wurde der Clip mehr als 13 Millionen Mal angeschaut und hat vor allem die CDU auf dem falschen Fuß erwischt. Man kann darüber spekulieren, inwieweit diese Aktion ursächlich war für das sehr schlechte Abschneiden von CDU und SPD. Sie hat aber sicherlich geholfen, einen großen gesellschaftlichen Bruch ins Scheinwerferlicht zu rücken.

Es ist bei der Europawahl ein deutlicher demografischer Trend sichtbar geworden, der sich thematisch am Klimaschutz festmacht. Im jüngeren Wählersegment gab es nur eine dominante Partei – die Grünen – und eine Reihe von Splitterparteien, die sich fast alle im einstelligen Prozentbereich bewegten. Das Parteiensystem der Jugend hat also mit dem der älteren Wähler nicht mehr viel gemeinsam.

Die zweite große Tendenz, die die Europawahlen sichtbar gemacht haben, ist eine regionale Spaltung. Zwar hat die AfD bundesweit im Vergleich zur letzten Bundestagswahl an Stimmen verloren, aber im Osten hat die Partei sehr starke Ergebnisse eingefahren und ging in einigen Bundesländern gar als stärkste Kraft hervor. Das ist bitter und lässt vermuten, dass es die nächsten politischen Beben bereits im Herbst geben wird, wenn in Sachsen, Brandenburg und Thüringen die Landtage neu gewählt werden.

Angesichts dieser beiden Trends ist es kein Zufall, dass die Grünen tendenziell in den Großstädten gut abgeschnitten haben – in einigen Berliner Bezirken mit über 50 Prozent der Stimmen –, die ländlichen Regionen aber eher konservativ geprägt sind. Förmlich aufgerieben zwischen diesen Polen wurde die SPD. Außer in ein paar Hochburgen konnte die Partei kaum punkten. Wegen der inhaltlichen Profillosigkeit und dem Fehlen einer erkennbaren politischen Auseinandersetzung konnte die Partei nicht gewinnen. Die große Frage, die sich jetzt stellt, ist, wie die Sozialdemokratie wieder auf die Beine kommen kann. Gibt es noch Raum für genuin sozialdemokratische Politik?

Die gute Nachricht wieder vorweg: Dieser politische Raum ist da. Es wird nur immer schwerer, ihn zu besetzen, solange die politischen Lager zwischen Jung und Alt sowie Stadt und Land weiter auseinanderdriften. Wo genau liegt dieser sozialdemokratische Raum? Zwar hat die SPD mehr als eine Million Wähler an die Grünen verloren, der weitaus größere Verlust ging aber an das Lager der Nichtwähler. Es gibt also viele enttäuschte SPD-Wähler, die sich bisher nicht durchringen konnten, ihr Kreuz woanders zu machen. Im ersten Schritt muss es daher darum gehen, durch eine klare Politik mit Herz diese Wähler wieder zu mobilisieren. Es hat sich gezeigt, dass Profillosigkeit und der Verzicht auf politische Auseinandersetzung in die Sackgasse führen. Politik lebt von der Positionierung und politischem Konflikt.

Der zweite Schritt betrifft die Inhalte selbst. Die SPD muss ihre originäre Rolle wiederentdecken und diese neu interpretieren. Der Markenkern der Sozialdemokratie war immer die soziale Gerechtigkeit. Die SPD ist historisch die Partei des sozialen Ausgleichs. Es gibt auch heute im deutschen Parteiensystem keine andere Kraft, die diese Rolle authentisch ausfüllen könnte. Was Willy Brandt einmal das „donnernde Sowohl-als-auch“ der SPD nannte, muss wieder erkennbare Strategie mit konkreten Zielen werden und darf nicht, wie zu häufig, programmatische Beliebigkeit bleiben. Sowohl als auch – das heißt, integrativ auf die gesellschaftlichen Debatten einwirken. Nur, wenn der Berliner Grünen-Wähler auch die Probleme des Braunkohleausstiegs in der Lausitz wahrnimmt, gelingt der Ausgleich. 

Letztendlich ist die einzige Chance für die Sozialdemokratie, sich der gesellschaftlichen Polarisierung inhaltlich entgegenzustellen und zu versuchen, einen neuen Gesellschaftsvertrag zu entwickeln. Wie die Europawahl wieder einmal gezeigt hat, zerreißt die fortschreitende Polarisierung der Gesellschaft die Partei, deren historische Rolle der soziale Ausgleich ist. Diese Rolle erfolgreich neu zu interpretieren wird nicht nur über die Zukunft der SPD entscheiden, sondern zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auch über den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Deutschland ist nicht allein in dieser Situation. Viele europäische Beobachter werden mit großem Interesse verfolgen, wie sich die Zukunft der deutschen Sozialdemokratie gestalten wird.

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