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Magazin Mitbestimmung

: Tarifpolitisches Neuland

Ausgabe 01+02/2008

TARIFPOLITIK Ansätze, den Altersübergang per Tarifvertrag zu regeln, stecken noch in den Anfängen. Doch manche Probleme lassen sich nur tarifpolitisch lösen

Von MATTHIAS HELMER.


Der gesetzliche Rahmen bildet nur die Grundlage. Wie die Vorschriften des Altersteilzeitgesetzes im Betrieb konkret umgesetzt werden - etwa die Aufstockung von Nettoeinkommen und Rentenbeiträgen - das regeln im Wesentlichen Tarifverträge. Dies gilt auch weiterhin, wenn die Förderung der Altersteilzeit durch die Bundesagentur für Arbeit Ende 2009 ausläuft. Gleichwohl suchen Tarif- und Betriebspolitiker angesichts der ungeklärten künftigen Situation schon seit längerem nach alternativen und innovativen Wegen des Altersübergangs - parallel zu den Bemühungen um eine Weiterentwicklung der Altersteilzeit nach 2010.

Es wird gleichzeitig aber auch darauf hingewiesen, dass es nicht darum gehen kann, ältere Beschäftigte - etwa über Erwerbsminderungsrenten - aus der Arbeitswelt zu drängen. Vielmehr müsse es Ziel bleiben, "dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht als Invaliden, sondern gesund und zu sozial akzeptablen Bedingungen in Rente gelangen", heißt es im Positionspapier zur Fortführung der geförderten Altersteilzeit, das die IG Metall im Herbst vorgelegt hat. So tut sich - über die rechtliche Ebene hinaus - auch einiges in den Unternehmen und Branchen. In immer mehr Firmen spielt das Thema Demografie - auch angestoßen durch verschiedenste öffentliche oder gewerkschaftliche Förderprojekte - eine Rolle.

Vorwiegend konzentrieren sich entsprechende Maßnahmen auf Altersstrukturanalysen, Ansätze zu alternsgerechter Arbeitsgestaltung oder Weiterbildungsmaßnahmen für Ältere. Erste Vorstöße immerhin, auch wenn hier noch reichlich zu tun ist. Anders sieht es beim Thema Altersübergang aus: Die Versuche, hier wegweisende Lösungen zu finden - als Auffang- oder Ergänzungsmöglichkeiten zur Altersteilzeit -, stehen noch ganz am Anfang. "Die Regelungen auf Tarifebene über Altersteilzeit hinaus sind bislang überschaubar", stellt Reinhard Bispinck, Leiter des WSI-Tarifarchivs, fest. Vereinzelt gab oder gibt es Vereinbarungen, die eine altersgestaffelte Reduzierung der Wochenarbeitszeit vorsehen, so etwa im Kfz-Gewerbe oder in der chemischen Industrie.

In einigen Tarifbereichen gewährt man Älteren auch zusätzliche Urlaubs- oder freie Tage, beispielsweise im öffentlichen Dienst, im Hotel- und Gaststättengewerbe oder in der Landwirtschaft. Diese Vereinbarungen zielen auf eine Verkürzung der regelmäßigen Arbeitszeit, um die Beschäftigten zu entlasten. Ein vorzeitiger Renteneintritt wird damit allerdings nicht ermöglicht. Diesem Zweck sollen vielmehr tarifliche Fonds oder Langzeitkonten dienen, wie sie in der Vergangenheit bereits ausgehandelt wurden, etwa in der nordrhein-westfälischen Eisen- und Stahlindustrie oder in der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg (Südwestmetall).

UMSTRITTENE LANGZEITKONTEN_ Wie aber sieht es in den Betrieben aus? Bei den klein- und mittelständischen Unternehmen in NRW  sei die Frage des Altersüberganges bislang noch kein großes Thema, sagt Wolfgang Nettelstroth, Sprecher der IG Metall in Nordrhein-Westfalen. Schaut man sich im Archiv für Betriebsvereinbarungen bei der Hans-Böckler-Stiftung um, dann finden sich - quer durch alle Branchen, vom Autohersteller bis zum Versicherungsgewerbe - verschiedenste Regelungen zu Langzeit- und Lebensarbeitszeitkonten, die unter anderem einen vorzeitigen Ruhestand ermöglichen sollen.

Doch solche Modelle sind nicht unumstritten: Grundlegende Nachteile von Langzeitkonten sind aus Sicht von Kritikern, dass die Zeitguthaben bei kurzen Ansparzeiten nicht für ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Job ausreichen und dass Geringverdiener doppelt belastet werden - finanziell und gesundheitlich. Die Praktiker in den Betrieben stehen damit vor der Aufgabe, unkontrollierte Arbeitszeitausweitungen und damit eine Überforderung der Beschäftigten zu vermeiden. Weitere wichtige Themen sind auch der Insolvenzschutz und die Übertragbarkeit solcher Konten. Letztere lässt sich aber nicht allein durch betriebliche, sondern nur durch (flächen-)tarifliche Regelungen erreichen.

Andreas Hoff, freier Arbeitszeitberater in Berlin, rät sogar grundsätzlich von Langzeitkonten ab, da ihre Ausgestaltung kompliziert und die zu erwartenden Erträge für Normalverdiener uninteressant seien. Er empfiehlt Beschäftigten, die früher in Ruhestand gehen wollen, ihre finanziellen Mittel besser in die betriebliche Altersvorsorge zu investieren. Ein anderer Experte, Karl-Hermann Böker, hat für die Hans-Böckler-Stiftung Betriebsvereinbarungen zu Langzeitkonten untersucht. Auch er weist darauf hin, dass Lebensarbeitszeitkonten dazu führen können, tarifliche oder rechtliche Arbeitszeitbeschränkungen zu umgehen. Problematisch seien zudem die Auswirkungen auf die Beschäftigung: Mögliche positive Effekte werden, wenn überhaupt, in die Zukunft verschoben.

Doch es finden sich auch Praxisbeispiele, die gut zu funktionieren scheinen: So haben die Deutschen Edelstahlwerke - vormals Edelstahlwerke Südwestfalen - in Hagen und Siegen vor gut zwei Jahren tarifpolitisches Neuland betreten. Das Unternehmen hat - auch auf Initiative des Betriebsrates und des Arbeitsdirektors Peter Schweda - Lebensarbeitszeitkonten eingeführt, die einen vorzeitigen Erwerbsaustritt ermöglichen sollen. Die rechtliche Basis bilden eine Gesamtbetriebsvereinbarung und ein firmenbezogener Verbandstarifvertrag. Dass es einen Bedarf gibt, ist offensichtlich.

Der Altersdurchschnitt der gut 4000 Beschäftigten an den heute vier Standorten liegt derzeit bereits bei über 46 Jahren - und Prognosen gehen davon aus, dass das Durchschnittsalter in der gesamten Stahlbranche bis zum Jahr 2020 auf 55 Jahre steigen wird. Der Anstoß sei seinerzeit aber nicht nur die allgemeine Diskussion um Altersübergang und Altersteilzeit gewesen, berichtet Jens Mütze, Betriebsratsvorsitzender in Hagen. Eine Rolle hat auch die Übernahme des Unternehmens, der damaligen Edelstahlwerke Südwestfalen, durch die Schmolz + Bickenbach AG im Jahr 2004 gespielt. Damals sollte die Wochenarbeitszeit von 35 auf 40 Stunden erhöht werden, um die Auslastung des Werkes zu verbessern.

Meist geht eine solche Verlängerung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich für die Beschäftigten vonstatten. Doch in diesem Fall einigten sich die Verhandlungspartner darauf, dass die zusätzlich geleisteten Stunden auf einem Lebensarbeitszeitkonto gutgeschrieben werden können. Zwölf Stunden pro Monat landen automatisch auf dem Konto. Die Beschäftigten können ihr Guthaben aber durch weitere Stunden oder durch Sonderzahlungen, Zuschläge und Ähnliches aufstocken - bis zu einer Grenze von maximal 4800 Stunden, sprich drei Arbeitsjahren. Ab 55 können sie dann auf ihr Guthaben zugreifen und früher aus dem Betrieb ausscheiden - oder auf Teilzeit umsteigen.

Die Regelung beinhaltet auch, dass die Beschäftigten am Unternehmenserfolg beteiligt werden. Auch hier werden Einbuchungen in das Lebensarbeitszeitkonto mit einem Bonus berücksichtigt. "Noch ist es zu früh, um absehen zu können, wie viele Beschäftigte sich für den vorgezogenen Ruhestand entscheiden würden und wie viele für Teilzeit", sagt der Betriebsrat. Die Resonanz in der Belegschaft sei aber sehr positiv. Wie begrenzt die Wirksamkeit mancher Modelle ist, zeigt das Beispiel der Deutschen Bank. Dort wurde vor einiger Zeit unter dem Namen "db-Zeitinvest" eine Langzeitkontenregelung eingeführt, die unter anderem längere Jobpausen oder einen früheren Renteneintritt ermöglichen soll. In dieses Konto können die Beschäftigten Überstunden oder Geld einstellen.

Bislang werde das Instrument aber kaum als Altersübergangsinstrument genutzt, berichtet der Hamburger Betriebsratsvorsitzende Jörn Riesler, allenfalls von einigen außertariflichen Gutverdienern, die Urlaubstage in das Konto einbringen. Riesler glaubt nicht, dass das Modell in Zukunft eine große Rolle spielen wird. "Um ein Jahr früher gehen zu können, müsste man 20 Jahre lang jedes Jahr rund 100 Überstunden machen ohne diese abzufeiern. Bei der Deutschen Bank sind es aber vor allem die Außertariflichen, die viele Überstunden machen. Und da ist es ungeschriebenes Gesetz, dass allerhöchstens ab etwa 250 Überstunden pro Jahr die Stunden nicht verfallen."

TARIFTHEMA 2008_ In den Tarifauseinandersetzungen 2008 wird der flexible Altersübergang ein wichtiger Verhandlungspunkt sein, etwa bei IG Metall und IG BCE. Die IG BCE geht mit der Forderung nach einem Tarifvertrag über flexible Instrumente zur Gestaltung der Lebensarbeitszeit in die Tarifrunde. Und die IG Metall hat im Herbst eine Kampagne zur Verlängerung der Altersteilzeit gestartet. Motto: "Für jung. Für alt. Für alle. Neue Altersteilzeit." Interesse an dem Thema haben auch schon die Arbeitgeber signalisiert: Bereits in der Tarifrunde für Metall und Elektro 2007 verständigten sich IG Metall und Gesamtmetall darauf, dass die tariflichen Regelungen zum flexiblen Übergang in die Rente weiterentwickelt werden sollen.

Anpacken will man das Thema auch in der Stahlindustrie, anknüpfend an den in der letzten Tarifrunde abgeschlossenen "Tarifvertrag Demografischer Wandel". Hier sollen zunächst Altersstrukturanalysen durchgeführt werden, um den Handlungsbedarf einschätzen zu können, sagt Wolfgang Nettelstroth. In den laufenden Verhandlungen will die IG Metall kürzere Arbeitszeiten für Stahlarbeiter, die älter als 50 Jahre sind, durchsetzen - etwa über zusätzliche Freischichten. Weniger gut sieht es bei der IG BAU aus. Nicht von ungefähr weisen die Kritiker der Rente mit 67 immer wieder auf die in hohem Maß belastenden Tätigkeiten von Dachdeckern oder Fliesenlegern hin. Doch für sie gibt es bisher keine Angebote.

"Im Baubereich gibt es bislang noch keine Möglichkeiten des flexiblen Altersübergangs, das ist unser Problem", sagt IG-BAU-Pressesprecherin Sigrun Heil. Besonders problematisch sei die Situation im Bereich der Gebäudereiniger, berichtet sie: "Viele Beschäftigte arbeiten hier nur auf Basis von Mini-Jobs. Das heißt, ihnen droht ein prekärer Altersübergang und Ruhestand. Bei der Bewältigung dieser Missstände ist aber vor allem die Politik gefordert", sagt die Gewerkschaftssprecherin.

Dies gilt für das Thema "Flexibilisierung des Renteneintritts" insgesamt. Denn, bei allen Bemühungen: "Keinesfalls darf das Thema Flexibilisierung zu einer Verantwortungsverschiebung auf die Tarifvertragsparteien und die Betriebsvertretungen führen", heißt es in einem ver.di-Papier zu Rente und Altersteilzeit. Tarifliche und betriebliche Regelungen zur Gestaltung des Altersübergangs sind auf verlässliche gesetzliche Rahmenbedingungen angewiesen, sonst sind sie nicht möglich.

 

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