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Warum ich die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen und eine Petition für die Aufhebung des Artikel-50-Verfahrens unterschrieben habe Magazin Mitbestimmung

Essay: Mein persönlicher Brexit

Ausgabe 02/2019

Warum ich die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen und eine Petition für die Aufhebung des Artikel-50-Verfahrens unterschrieben habe. Von Andrew Watt, Leiter der Referates Europäische Wirtschaftspolitik am IMK

Ich wurde im Jahr 1963 in Großbritannien geboren, habe aber mein gesamtes Arbeitsleben auf dem Kontinent verbracht. Während ich diese Zeilen schreibe, verstreicht der 1000. Tag seit dem Referendum von 2016, das mein Geburtsland nach fast einem halben Jahrhundert der Mitgliedschaft aus der EU hinausführen wird. Eine Ewigkeit scheint seitdem vergangen. Es sind jetzt nur noch zehn Tage bis zum ursprünglich geplanten Brexit-Termin am 29. März. Noch immer herrscht Verwirrung über den Ausgang. Trotz jahrelanger Debatten stehen immer noch alle Optionen im Raum: ein harter Ausstieg ohne Abkommen, ein einvernehmliches Ausscheiden mit Abkommen oder doch der Verbleib in der EU.

Das Ergebnis des Referendums war ein Schock. Einige Tage danach schrieb ich einen Beitrag mit dem Titel „No good options for the UK“ (Keine guten Optionen für Großbritannien). Darin hieß es, dass britisches Rosinenpicken nicht funktionieren werde und man sich zwischen einem politisch unbefriedigenden Brexit, der „nur dem Namen nach einer ist“, und einem wirtschaftlich schädlichen harten Brexit entscheiden müsse. Nachdem sich diese Optionen klar herauskristallisiert haben werden, solle das britische Volk ein Recht haben, noch einmal gefragt zu werden, ob es die EU verlassen möchte. Leider hat sich bisher alles bewahrheitet, nur die Frage nach der Marschrichtung ist noch immer unbeantwortet. Das verbindliche EU-Austrittsabkommen ist, ungeachtet des Gezeters, im Umfang sehr beschränkt und wurde noch nicht angenommen, während die politische Erklärung vage und unverbindlich ist.

In den Wochen nach dem Referendum habe ich zwei persönliche Entscheidungen getroffen: Ich habe zusätzlich die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen – ein Schritt, der sich jahrzehntelang als Option bot, für den ich aber keine Notwendigkeit sah. Jetzt habe ich zwei Pässe. Das Verfahren erfüllte das Klischee der deutschen Effizienz, was hierzulande nicht immer der Fall ist. Was auch immer beim Brexit he­rauskommt, ich bleibe jetzt Bürger der EU. Wie viele meiner Landsleute habe ich die Aussicht, dass mir dies gegen meinen Willen durch ein mangelhaftes Referendum genommen wird, zutiefst übel genommen. Den meisten, die für den Verbleib gestimmt haben, bietet sich natürlich nicht die Option einer doppelten Staatsangehörigkeit. In gewisser Weise werden sie „ausgebürgert“, sollte der Brexit tatsächlich stattfinden.

Die zweite Entscheidung war, mich in zwei Bürgerinitiativen zu engagieren, die auf verschiedene Weise versuchen, sowohl den normalen Bürgern wie auch der Politik zu vermitteln, dass man die wesentlichen Errungenschaften des europäischen Einigungsprozesses nicht als selbstverständlich ansehen kann. Die Debatte über Europa kann man nicht lautstarken Gruppen überlassen, die vereinfachend echte oder erfundene Unzulänglichkeiten der EU beschreien und nur billige Parolen („Die Kontrolle zurückerlangen“) und verantwortungslose Lösungen anzubieten haben – bis hin zur vollständigen Auflösung der EU. Wenn der Brexit – und ähnliche Entwicklungen wie die Wahl Trumps und der Aufstieg autoritärer Führerfiguren in anderen Ländern – überhaupt etwas Gutes hat, dann ist es die zunehmende Erkenntnis, dass europäische Werte und Errungenschaften aktiv beworben und entschlossen verteidigt werden müssen. Man muss Politikern und Kommentatoren widersprechen, wenn sie „Brüssel“ für Entscheidungen die Schuld geben, die (stärker) nationalen politischen Versäumnissen anzulasten sind, oder sie unerwünschte Ergebnisse kritisieren, ohne gangbare Alternativen aufzuzeigen.

Das bedeutet natürlich nicht, dass man die EU nicht kritisieren darf. Ganz im Gegenteil, es gibt sicherlich unzählige Gründe, es zu tun. Ich möchte hier nur drei davon nennen. Zum einen hat man noch immer nicht die Lehren aus der Eurokrise gezogen. Die wirtschaftspolitische Steuerung bleibt weiterhin eine wesentliche Schwäche. Zweitens die Unfähigkeit, sich auf eine menschliche und effektive Migrationspolitik zu verständigen. Sie ist aus ethischer Sicht ein Schandfleck auf der Weste des Kontinents und eine Quelle innenpolitischer Auseinandersetzungen. Drittens sind die Lösungsansätze zur Bekämpfung des Klimawandels, die so dringend erforderlich sind, nur punktuell und unkoordiniert. 

Dabei muss man anerkennen, dass das „EU“ genannte Gebilde eine Staatsorganisation ist, in der unterschiedliche Regierungsebenen auf hochkomplexe Weise miteinander agieren und die sich stückchenweise in historischen Dimensionen entwickelt. Moderne Staaten wie Deutschland oder die Vereinigten Staaten entstanden ebenfalls über einen langen Zeitraum mit oft blutigen Konflikten. Es ist meist überhaupt nicht klar, wer der eigentliche Adressat ist, wenn die EU pauschal kritisiert wird. Es ist genauso unklar, wie die Alternative zu ihr aussähe; genau das hat die Brexit-Saga verdeutlicht. 

Meine Einstellung lässt sich so auf den Punkt bringen: Ein gemeinsamer Wirtschaftsraum für den Austausch von Gütern, Dienstleistungen und auch Arbeitskräften und Kapital bietet viele Vorteile. Aber damit dieser Raum gut funktionieren kann, muss er angemessen reguliert werden. Einiges davon kann weiter auf lokaler und nationaler Ebene erfolgen. Aber in vielen Fällen muss die Regulierung auf der gleichen Ebene erfolgen wie die Marktintegration, also auf Ebene der EU, wenn sie effektiv sein soll. Und wo dies der Fall ist, sollte es auch so gemacht werden. 

Seltsam ist, dass viele Liberale die EU als grundlegend sozialistisch ansehen, während viele im linken Lager Europa für unverbesserlich neoliberal halten. Tatsächlich ist sie eine Mehr-Ebenen-Struktur, in der politische Kräfte mobilisieren und sich organisieren können, um ihre unterschiedlichen Visionen zu verwirklichen. Das letztendliche Ergebnis entsteht durch eine dauerhafte Auseinandersetzung, die – und das ist wichtig und historisch neu – mit friedfertigen Mitteln geführt wird. Sie unterliegt der ständigen Revision, wenn auch frühere Entscheidungen aktuelle Möglichkeiten beschneiden. Mit anderen Worten: Stoßrichtung und Umfang einer solchen Regulierung werden politisch festgelegt und hängen damit nicht zuletzt auch vom Ausgang kommunaler, nationaler und europäischer Wahlen ab.

Ende Mai wird das Europäische Parlament gewählt. Um die 370 Millionen Menschen sind aufgerufen, über den Kurs der EU in den nächsten fünf Jahren mitzuentscheiden. Es scheint nun, dass die Brexit-Frist verlängert wird, aber zunächst wohl nicht über den Tag der Europawahlen hinaus. Die britischen Bürger werden damit der Möglichkeit beraubt, den Weg mitzubestimmen, den Europa künftig einschlagen wird – ein Kontinent, mit dem Großbritannien unabhängig von der weiteren Entwicklung eng verbunden bleiben wird. Im Vereinigten Königreich auch wählen zu lassen, wo das Land halb in der EU und halb ausgetreten ist, ist keine verlockende Aussicht. 

Die Brexit-Debatte hat bereits zu viel politische Energie beansprucht. Eine Option ist, das vorliegende Abkommen anzunehmen; in diesem Fall kann der Brexit vor den Europawahlen erfolgen. In der Übergangsphase finden die Verhandlungen über die wirklich wichtigen Fragen der künftigen Handels- und anderen Beziehungen statt. Andernfalls sollte Großbritannien aufgefordert werden, entweder das Verfahren nach Artikel 50 des Vertrages über die Europäische Union, das den Austritt eines Mitgliedstaates regelt, zu widerrufen – was es einseitig tun kann (In diesem Fall müsste die Europawahl abgehalten werden, womöglich mit Verzögerung.). Mit den Lehren aus den über 1000 Tagen kann das Land ohne Zeitdruck und mit vollen Rechten, aber auch Pflichten nachdenken. 

Oder Großbritannien sollte die EU – zunächst – ohne Abkommen verlassen. Dies wird kurzfristig enormen wirtschaftlichen Schaden bedeuten, vor allem im Vereinigten Königreich. Die Verhandlungen müssten unverzüglich wieder aufgenommen werden. Aber sie würden dann mit der klaren Prämisse geführt, dass das Vereinigte Königreich kein Mitgliedstaat mehr ist. Es hätte dann keine Verpflichtungen, aber auch keine Rechte. Meiner Meinung nach würde es in diesem Fall schnell eine Annäherung suchen. 

Meine persönliche Präferenz ist klar: Ich habe soeben eine Petition für die Aufhebung des Artikel-50-Verfahrens unterzeichnet.

  • Was kommt nach dem Brexit? (Foto: Shutterstock)

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