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Die Teilnehmer der abschließenden Podiumsdiskussion im Französischen Dom in Berlin. Magazin Mitbestimmung

Tagung: Die Qualifikationen mehr beachten

Ausgabe 01/2019

Das Thema bewegt die Öffentlichkeit und die Debatte über die umstrittenen Reformen nimmt grade wieder an Fahrt auf. So war die Tagung des IMK zu Hartz IV mit mehreren Hundert Menschen auch gut besucht. Von Gunnar Hinck

Auf jedem Platz lag eine kleine Provianttüte. Der Inhalt: eine Capri-Sonne, ein belegtes Brot und ein Apfel. Wert 4,92 Euro – der Tagessatz für Verpflegung eines erwachsenen, allein lebenden Hartz-IV-Empfängers. Bei Hartz IV, so die Botschaft, geht es um Lebensschicksale, wenn abstrakt über Bezugszeiten, Regelsätze und Zumutbarkeitsregeln gesprochen wird.

Im ersten Teil der Tagung „Hat Hartz IV eine Zukunft?“ wurden die Wirkungen der Reformen auf dem Arbeitsmarkt auf den Prüfstand gestellt – mit differenzierten Ergebnissen. Bernd Fitzenberger, Professor für Ökonometrie an der Berliner Humboldt-Universität, stellte fest, dass die Sanktionen dazu geführt hätten, dass Arbeitslose eher zurück in Beschäftigung gekommen seien. Allerdings schränkte Fitzenberger ein: „Bei Langzeitarbeitslosen können wir noch nicht von einem durchschlagenden Erfolg sprechen.“ Eine weitere Schattenseite sei laut Fitzenberger, dass sich eine nicht genau bezifferte Zahl an Hartz-IV-Beziehern wegen der Sanktionen abmelde und in den sogenannten verdeckten Arbeitsmarkt rutsche. Dieses Problem hielt auch Peter Bofinger, Ökonom an der Universität Würzburg und einer der Wirtschaftsweisen, für gravierend: „Ab 2005 sind arbeitslos Gemeldete wegen der Sanktionen vermehrt in die Nichterwerbstätigkeit gegangen und fielen aus der Statistik.“

Der Makroökonom Philip Jung von der TU Dortmund präsentierte einen neuen Blick auf die stark gesunkene Arbeitslosigkeit in Deutschland seit 2005. Nach seinen Forschungen sei der Grund weniger das „Fördern und Fordern“, sondern dass seit Einführung von Hartz IV in Krisenzeiten weniger entlassen werde als früher – es gebe weniger Zugänge in die Arbeitslosenstatistik. Der Makroökonom erklärte diese Entwicklung so: Durch Hartz IV sei die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer geschwächt worden; sie seien eher zu Lohneinbußen bereit, um ihren Arbeitsplatz zu retten. Im zweiten Teil ging es um Reformvorschläge. Drei Vorschläge kamen von mehreren Rednern: Zum einen forderten sie eine längere Bezugsdauer des ALG I, um die Angst vor einem Abrutschen in Hartz IV zu mindern. Konsens war, bessere Förderangebote für ALG-II-Bezieher zu machen, damit es zu einer echten Balance des „Förderns und Forderns“ komme.

Auch die Zumutbarkeitsregeln wurden kritisiert. Bislang ist nach dem SGB II jeder Bezieher von Hartz IV verpflichtet, jedes Jobangebot anzunehmen, unabhängig von seiner Qualifikation. Anke Hassel, Wissenschaftliche Direktorin des WSI der Hans-Böckler-Stiftung, schlug vor, die Zumutbarkeitsregeln zu lockern und mehr Rücksicht auf die Qualifikation des Hartz-IV-Beziehers zu nehmen. Annelie Buntenbach, Vorstandsmitglied des DGB, unterstützte diese Forderung. Sie stellte das DGB-Papier „Soziale Sicherheit statt Hartz IV“ vor, welches Ideen wie ein Anschlussarbeitslosengeld mit dem Recht auf Weiterbildung für alle, die länger als zehn Jahre beschäftigt waren, oder Integrationsmaßnahmen nur im Einvernehmen mit dem Hartz-IV-Bezieher, um dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen, enthält.

Den wohl ungewöhnlichsten Vorschlag machte Philip Jung. Er empfahl, die Diskussion weg von Hartz IV zu lenken, mehr über Anreize für Arbeitplatzsicherung zu reden. Er forderte eine Entlassungssteuer für Unternehmen, um Arbeitslosigkeit und ein Abrutschen ins Hartz-IV-System zu verhindern. Die Teilnehmer hatten vielfältige Reformideen – eines einte sie aber: Keiner wollte Hartz IV komplett abschaffen. 

  • Die Teilnehmer der abschließenden Podiumsdiskussion im Französischen Dom in Berlin. (Bild: Peter Himsel)

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