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HBS Böckler Impuls

Europa: Der Hegemon irrt

Ausgabe 09/2017

Die europäische Integration ist nicht so weit gediehen, dass die EU als Ganze die jüngste Krise hätte abwehren können. Deutschland ist mit seiner Bevormundungsstrategie gescheitert.

Kapitalismus ist nicht gleich Kapitalismus. In Europa existieren verschiedene Spielarten. Während in den nördlichen Ländern vielfach die Industrieproduktion für den Weltmarkt prägend ist, gibt im Süden eher die Nachfrage auf dem Binnenmarkt den Ausschlag. In den 2000er-Jahren existierten die unterschiedlichen ökonomischen Regime zunächst in Eintracht und verzeichneten ähnliche Wachstumsraten, so Denise Currie und Paul Teague von der Universität Belfast in einer aktuellen Analyse. Doch im Hintergrund kam es infolge der Euro-Einführung zu Verschiebungen, die Finanz- und Handelsströme aus dem Gleichgewicht brachten: Aus den Kernländern floss immer mehr Kapital an die Peripherie. So finanzierten etwa deutsche Überschüsse den Wirtschaftsboom in Spanien. Die 2008 beginnende Krise könne als schlagartige Abwicklung des entstandenen Finanzgeflechts interpretiert werden, schreiben Currie und Teague. Im Süden ging das Geld aus, im Norden bangten die Banken um ihre Kredite. Und keine europäische Zentralregierung konnte eingreifen und die Schocks finanzpolitisch absorbieren. „Die institutionelle Schwäche der Eurozone lag offen zutage.“

Bei der Konstruktion des gemeinsamen Währungsraums war keine Vorsorge für diesen Fall getroffen worden. Weder gab es eine Institution, welche die innereuropäischen Kapitalflüsse überwachte und gegen Fehlentwicklungen hätte einschreiten können, noch existierte irgendeine Form von Länderfinanzausgleich, der die Krisenfolgen hätte mindern können. Damit war die Krise für die Währungsunion nun selbst lebensbedrohlich. Es gab keinen Ausweg, denn „jeder Versuch, die Integration weiter voranzutreiben, schien nur die antieuropäische Stimmung in den Mitgliedsländern zu verstärken“, so die Wissenschaftler. „Die Eurozone konnte nicht vor und nicht zurück.“

In dieser Situation übernahm Deutschland Currie und Teague zufolge die Führung und versuchte in der Rolle eines europäischen „Hegemonen“, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Dabei betrachten die Wissenschaftler Deutschland weniger als wohlwollenden Vorherrscher, der – wie beispielweise die USA mit dem Marshall-Plan nach dem Zweiten Weltkrieg – bereit ist, die Kosten des Neuaufbaus ohne direkte Gegenleistung zu schultern. Vielmehr handle es sich bei Deutschland um einen Hegemonen, der die Schwächeren zwingt, die Kosten der Neuordnung zu tragen. Dabei suche Deutschland keine Kompromisse, sondern verfolge die Strategie, das übrige Europa nach seinem Bilde zu formen: Die mithilfe der sogenannten Troika durchgesetzten Spar- und Flexibilisierungsprogramme sollen Südeuropas Volkswirtschaften kostengünstig wieder auf Kurs bringen – nach dem Vorbild der Hartz-Reformen.

Das Resultat, so die Ökonomen, sind Arbeitslosenquoten von zeitweise über 25 Prozent in Spanien und Griechenland, geschrumpfte öffentliche Sektoren, angeschlagene Tarifsysteme, eine schwächere arbeitsrechtliche Stellung der Beschäftigten sowie drastisch gesunkene oder eingefrorene Mindestlöhne und Lebensstandards. Allerdings stellten sich die gewünschten Effekte nach Curries und Teagues Analyse nicht ein: Trotz der harten Reformen scheinen die traditionellen Systeme der industriellen Beziehungen nicht komplett entwurzelt zu sein, beispielsweise sei die häufig kritisierte segmentierte Struktur des spanischen Arbeitsmarkts, der sich in relativ sichere und befristete Jobs teilt, nach wie vor intakt; das Einstellungsverhalten der Unternehmen habe sich durch die Reformen kaum verändert. Insgesamt seien die ökonomischen Unterschiede in Europa eher größer als kleiner geworden, was sich beim Vergleich der Staatsverschuldung oder der Lohnstückkosten zeige. Ironischerweise sei die Eurozone nach allen Versuchen, die Wirtschaften einander anzugleichen, heute ein „stärker asymmetrischer Währungsraum“ als früher.

Die Bürger der nördlichen EU-Länder seien häufig der Auffassung, der Süden müsse seine Probleme selbst lösen, fürchten die Wissenschaftler, während der Süden mit den „in höchst undemokratischer Manier“ durchgesetzten Reformen hadert. Das einzige, was Europa noch zusammenhält, sei die Befürchtung, dass eine Abwicklung der Währungsunion vielleicht alles noch schlimmer macht. Es sei unwahrscheinlich, dass sich diese Konstellation als Dauerlösung erweist. Wenn die Union nicht zerfallen soll, seien eine Abkehr von deutschen Vorstellungen und eine Neukonstruktion unvermeidlich.

Denise Currie, Paul Teague: The eurozone crisis, German hegemony and labour market reform in the GIPS countries, Industrial Relations Journal, April 2017 (online)

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