zurück
HBS Böckler Impuls

Gesellschaft: Urnengrab vom Amt

Ausgabe 20/2016

Demografischer wie gesellschaftlicher Wandel und die zunehmende Altersarmut haben eine traurige Folge: Die Zahl der anonymen Armenbestattungen steigt.

Eine offizielle Statistik gibt es nicht. Wie viele meist mittellose und vereinsamte Menschen am Ende ihres Lebens behördlich in einem anonymen Urnengrab beigesetzt werden, weil sich niemand findet, der Trauerfeier und Bestattung bezahlen kann oder will, wird nicht zentral erfasst. Um die Dimensionen dennoch abschätzen zu können, hat der Soziologe Janosch Schobin von der Universität Kassel eine Befragung gestartet, an der sich 66 Städte unterschiedlicher Größe beteiligt haben. Es zeigt sich: Der Anteil der „ordnungsbehördlich Bestatteten“ an allen Todesfällen lag in den Metropolen 2013 bei fast sechs Prozent, in Mittelstädten bei knapp drei Prozent. Diese Zahlen seien mit Vorsicht zu interpretieren, schreibt Schobin. Unter anderem kommen die höheren Werte in großen Städten auch dadurch zustande, dass in Krankenhäusern Gestorbene ohne Angehörige, die eigentlich im Umland gelebt haben, stets am Ort der Klinik als verstorben gezählt werden, während andere nach der Überführung des Leichnams in die Statistik ihrer Heimatgemeinde eingehen. Trotz aller Abgrenzungsschwierigkeiten sei aber unübersehbar: Seit Mitte der 1990er-Jahre nimmt die Zahl der „Armenbegräbnisse“ deutlich zu.

Männer sind fast doppelt so häufig betroffen wie Frauen. Das passt zu Befunden anderer soziologischer Studien, nach denen Armut und schwache Familienbindung gerade bei Männern häufig in Kombination auftreten. Zudem geht Schobin davon aus, dass der hohe Männeranteil auch mit den Folgen von Scheidungen zusammenhängt: Männer verlieren dadurch häufiger den Kontakt zu ihren Kindern als Frauen.

Eine Reihe gesellschaftlicher Entwicklungen lässt dem Wissenschaftler zufolge erwarten, dass die Zahl der Menschen, denen die Beisetzung durch Angehörige verwehrt bleibt, weiter zunimmt. Es gibt immer mehr kinder- und partnerlose Menschen, durch Armut sozial Isolierte, aber auch Individualisten, in deren Leben Freundschaften statt Verwandtschaft die wichtigste Rolle spielen. Gerade der letzte Fall ist konfliktträchtig – wenn die Freunde des Verstorbenen gern in Würde Abschied nehmen würden, die entfremdeten Verwandten sich aber weigern, die Kosten zu übernehmen.

Janosch Schobin: „Armenbestattungen“ im modernen Sozialstaat, Zeitschrift für Sozialreform 3/2016 (Bezahllink nur ONLINE)

Impuls-Beitrag als PDF

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen