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HBS Böckler Impuls

Europa: Die Wirtschaft wächst, die Löhne kaum

Ausgabe 13/2017

Die Reallöhne in Europa steigen nur langsam. In diesem Jahr droht in etlichen Ländern wieder Stagnation oder Rückgang.

Die realen Effektivlöhne legten im EU-Schnitt im vergangenen Jahr um 1,5 Prozent zu, im laufenden Jahr dürfte der Zuwachs durchschnittlich lediglich 0,4 Prozent betragen. Zu diesem Ergebnis kommt der Europäische Tarifbericht des WSI. Deutschland liegt mit einem Reallohnzuwachs von 1,9 Prozent 2016 und prognostizierten 0,8 Prozent 2017 zwar über dem europäischen Durchschnitt, angesichts des stabilen Aufschwungs sind die inflationsbereinigten Zuwächse aber auch hier sehr moderat. 

Um die Binnennachfrage und das Wachstum zu beleben, wären EU-weit deutlich stärkere Steigerungen notwendig. Auch in Deutschland bestehe dafür Spielraum, erklären die WSI-Forscher Thorsten Schulten und Malte Lübker. Damit liegen sie auf einer Linie mit vielen internationalen Ökonomen und Institutionen: Eine positive Lohnentwicklung sei entscheidend für die Nachhaltigkeit des Aufschwungs, heißt es von Seiten der Europäischen Kommission. Auch die Europäische Zentralbank (EZB) plädiert seit einiger Zeit für höhere Lohnzuwächse. Weitere Lohnsteigerungen würden nicht nur die private Nachfrage stärken, sondern auch zur Normalisierung der Inflationsrate beitragen. 

Aufgrund der aktuell geringen Preissteigerung schlugen sich Nominallohnerhöhungen 2016 fast ungebremst nieder. In diesem Jahr wird die Inflation jedoch aufgrund höherer Energie- und Nahrungsmittelpreise anziehen – wodurch viele Menschen in Europa inflationsbereinigt kaum mehr in der Tasche haben. In Italien, Spanien, Großbritannien, Belgien, Finnland und Zypern müssen die Beschäftigten 2017 sogar mit Reallohnverlusten rechnen. 

Betrachtet man die Entwicklung der Reallöhne über einen längeren Zeitraum, so zeigt sich: Die Folgen der Eurokrise sind längst noch nicht überwunden. In zehn EU-Staaten liegt das Reallohnniveau noch immer unterhalb des Niveaus des Krisenjahrs 2009. Am deutlichsten ist diese Entwicklung in Griechenland, wo die Reallöhne zwischen 2010 und 2017 um fast 23 Prozent gefallen sind, gefolgt von Zypern (-12,8 Prozent), Portugal (-8,6 Prozent), Kroatien (-5,8 Prozent) und Spanien (-5,5 Prozent). Lediglich in einigen osteuropäischen Ländern kam es im gleichen Zeitraum zu kräftigen Reallohnzuwächsen, allerdings ausgehend von einem sehr niedrigen Niveau. Außerhalb von Osteuropa konnten vor allem Schweden (13,7 Prozent) und Deutschland (9,8 Prozent) seit 2010 deutlichere Reallohnzuwächse verzeichnen.

Trotz der Lohnzuwächse in Deutschland blieb die Lohnquote – der Anteil der Arbeitseinkommen am gesamten Volkseinkommen – von 2010 bis 2017 konstant. Die Lohnerhöhungen der letzten Jahre waren also vollständig durch Preis- und Produktivitätssteigerungen gedeckt. Hinzu kommt, dass Deutschland in den 1990er- und 2000er-Jahren einen starken Rückgang der Lohnquote erlebt hat – die Entwicklung des aktuellen Jahrzehntes hat diesen Trend gestoppt, aber nicht umgekehrt. „Die deutsche Lohnpolitik ist damit weit von einer expansiven Ausrichtung entfernt und steht deshalb nach wie vor in der internationalen Kritik“, schreiben die WSI-Forscher.

Warum steigen die Löhne in Europa so ungewöhnlich langsam? Immerhin weisen die meisten europäischen Länder wieder ein stabiles Wirtschaftswachstum auf und die offiziellen Arbeitslosenraten gehen zurück. Eine mögliche Erklärung: Anders als es die offiziellen Zahlen suggerieren, ist die Lage auf den Arbeitsmärkten in vielen europäischen Ländern nach wie vor angespannt. Zu diesem Schluss kommt auch eine aktuelle Untersuchung der EZB. Demnach werden viele Erwerbssuchende in der Arbeitslosenstatistik nicht erfasst. So werden Teilzeitbeschäftigte, die gerne mehr Stunden arbeiten würden, ebenso wenig mitgezählt wie Personen, die gerne arbeiten würden, aber wegen mangelnder Angebote nicht nach einer Stelle suchen. Nach Berechnungen der Notenbank liegt die Unterauslastung auf dem Arbeitsmarkt im Durchschnitt der Euroländer bei rund 15 Prozent. Die offizielle Arbeitslosenquote für den Euroraum lag hingegen zuletzt bei 9,5 Prozent. Hinzu kommt, dass es sich bei den in jüngster Zeit neu geschaffenen Arbeitsplätzen oft um befristete Jobs und andere Formen prekärer Beschäftigung handelt. Eine Entwicklung, die nach Analyse der WSI-Wissenschaftler durch Arbeitsmarkt-Deregulierungen in vielen europäischen Ländern begünstigt wurde. 

  • In einigen EU-Staaten liegen die Reallöhne noch immer unterhalb des Niveaus der Euro-Krise. Zur Grafik

Malte Lübker, Thorsten Schulten: Europäischer Tarifbericht des WSI – 2016/2017, WSI-Mitteilungen 6/2017 

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