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HBS Böckler Impuls

Wachstum: Ungleichheit kostet Wohlstand

Ausgabe 13/2016

Der Wohlstand in Deutschland hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten kaum zugenommen. Das liegt vor allem an der gestiegenen Ungleichheit.

Nach konventioneller Lesart stehen die Deutschen ökonomisch wesentlich besser da als Anfang der 1990er-Jahre: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist zwischen 1991 und 2014 um fast 30 Prozent gewachsen. Weniger rosig stellt sich die Entwicklung dar, wenn man ein breiteres Konzept von Wohlstand zugrunde legt: Der „Nationale Wohlfahrtsindex 2016“ (NWI 2016) verzeichnet für den gleichen Zeitraum einen Zuwachs von weniger als vier Prozent. Die entsprechenden Berechnungen hat ein Forscherteam um Hans Diefenbacher vom Institut für Interdisziplinäre Forschung (FEST) in Heidelberg im Auftrag des IMK durchgeführt. Hauptgrund für die relativ schwache Entwicklung ist demnach der deutliche Anstieg der Einkommensungleichheit vor allem in den 2000er-Jahren.

Der NWI hat das Ziel, Lücken zu schließen und Widersprüche aufzulösen, die sich bei der klassischen Methode der Wohlstandsmessung allein über das BIP ergeben. So kritisieren viele Experten, dass das Inlandsprodukt weder die Verteilung der Einkommen noch Ressourcenverbrauch und Umweltbelastungen angemessen erfasst. Beispielsweise gehen Sanierungsarbeiten, mit denen Umweltschäden beseitigt werden, in vollem Umfang positiv ins BIP ein.

Um ein realistischeres Bild der Wohlfahrtsentwicklung zu erhalten, lassen die Wissenschaftler insgesamt 20 Komponenten in den NWI einfließen. Zu den wichtigsten zählt der private Konsum, bei dem aber die Einkommensungleichheit berücksichtigt wird. Mehr Gleichheit gibt Pluspunkte beim Konsum. Die Begründung: Wenn ärmere Menschen mehr Geld zur Verfügung haben, stiftet das mehr Nutzen als bei Reichen, bei denen der gleiche absolute Zuwachs kaum ins Gewicht fällt.

Darüber hinaus erfasst der NWI unter anderem die Wertschöpfung durch Hausarbeit und ehrenamtliche Tätigkeiten sowie einen Teil der öffentlichen Ausgaben für Gesundheit und Bildung. Von der Bilanz abgezogen werden dagegen etwa Aufwendungen zur Kompensation von Umweltbelastungen, Kosten für nicht erneuerbare Energieträger, Schäden durch Luftverschmutzung, Treibhausgase oder Lärmbelästigung sowie die Kosten von Kriminalität und Verkehrsunfällen.

Im Zeitraum von 1991 bis 2014 unterscheiden die Forscher drei Phasen der Wohlfahrtsentwicklung:

  • Bis 1999 stiegen BIP und NWI im Gleichklang – um etwa 1,5 Prozent pro Jahr. Den moderat positiven Trend erklären die Wissenschaftler mit zwei Entwicklungen: Erstens stiegen die privaten Konsumausgaben spürbar, während die Einkommensungleichheit nicht zunahm. Zweitens gingen die Kosten der Umweltverschmutzung deutlich zurück. Dazu habe neben technischem Fortschritt allerdings auch der Zusammenbruch der Industrie in Ostdeutschland beigetragen.
  • Von 1999 bis 2005 verlangsamte sich das BIP-Wachstum spürbar auf durchschnittlich ein Prozent. Noch deutlich stärker schlug die Krise nach dem Platzen der Internet-Blase aber auf den NWI durch. Hohe Arbeitslosigkeit und stagnierende Löhne ließen die Ungleichheit spürbar steigen, was die nur noch geringfügige Zunahme der Konsumausgaben überlagerte. Die Umweltbelastung ging zwar weiter zurück, doch viel zu schwach, um den Negativtrend zu stoppen. Unter dem Strich sinkt der NWI im Jahresmittel um 1,5 Prozent.
  • In der dritten Phase, zwischen 2005 und 2013, beschleunigte sich das BIP-Wachstum wieder auf 1,4 Prozent pro Jahr. Die Wohlfahrtsentwicklung nach dem NWI stagnierte weitgehend. Das liegt vor allem daran, dass der Konsum lediglich moderat wuchs, während die in Euro bewertete Hausarbeit zurückging. Die Umweltparameter verbesserten sich geringfügig. Recht positiv fällt die Bilanz für 2009 aus. Im Jahr der Finanz- und Wirtschaftskrise brach zwar das BIP massiv ein, der Konsum ging jedoch nur minimal zurück. Damit schlägt sich der Erfolg der damaligen Antikrisenstrategie aus Konjunkturstimulierung, Kurzarbeit und Arbeitszeitverkürzung, die vor allem in mitbestimmten großen Industriebetrieben umgesetzt wurde, im NWI nieder.

Insgesamt zeige der alternative Wohlfahrtsindex ein deutlich differenzierteres Bild als das BIP, betonen Diefenbacher und seine Forscherkollegen. Einen Lichtblick biete möglicherweise das aktuellste Jahr der Auswertung, 2014: Während das BIP um 1,6 Prozent wuchs, legte der NWI um 2,2 Prozent zu. Nach Analyse der Forscher hat das zwei Gründe: eine solide Entwicklung beim Konsum und niedrigere Kosten für nicht erneuerbare Energieträger, weil der Verbrauch von Heizenergie gesunken ist. Für ein endgültiges Urteil fehlten zurzeit allerdings noch differenziertere Daten zur Einkommensungleichheit.

  • Der Nationale Wohlfahrtsindex soll Lücken schließen und Widersprüche auflösen, die sich bei der klassischen Methode der Wohlfahrtsmessung allein über das BIP ergeben. Zur Grafik

Hans Diefenbacher, Benjamin Held, Dorothee Rodenhäuser, Roland Zieschank: Wohlfahrtsmessung „Beyond GDP“ – Der Nationale Wohlfahrtsindex (NWI 2016) (pdf), IMK Studies Nr. 48, Juli 2016

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