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Magazin Mitbestimmung

China: Zehn Tage im Riesenreich

Ausgabe 03/2016

Zum ersten Mal hat die Hans-Böckler-Stiftung für Stipendiaten eine Studienreise nach China organisiert. In ein Land, das gegen den Smog kämpft, in dem weltweit am meisten Streiks stattfinden und das marktwirtschaftliche Reformen organisiert. Von Ana Radic

Der blaue Himmel über Peking ist das Thema Nummer eins. Europäisches Wetter hätten wir mitgebracht, sagen uns viele Gesprächspartner zur Begrüßung. Ich bin mit zwölf Stipendiaten auf einer Studienreise in China unterwegs. Ob Kader, Professoren oder Journalisten, die wir treffen: So unterschiedlich sie ihr Land beurteilen, beim Thema Luft sind sich alle einig: Sie muss wieder sauberer werden. „Bei Smog können wir die Hochhäuser dort drüben nicht mehr sehen“, sagt Thomas Böwer, der in Peking lebt. Er zeigt auf die glitzernden Wolkenkratzer des Pekinger Diplomatenviertels Sanlitun. Zusammen mit dem Journalisten Luo Changping leitet Böwer das Verbraucher-Testportal Okoer, das eng mit dem deutschen Öko-Test Verlag verbandelt und seit 2015 online ist. 

Das Portal testet internationale Produkte, die auf dem chinesischen Markt verkauft werden – der Glaubwürdigkeit halber in deutschen Laboren. Lebensmittelsicherheit ist im skandalgeschüttelten China vor allem für die wachsende Mittelschicht ein großes Thema. Umso erstaunter sind die Stipendiaten, als Böwer erzählt, dass auch europäische Firmen auf dem chinesischen Markt offenbar Mangelware verkaufen. So wurde Babynahrung vom selben Hersteller in Deutschland mit der Note A und in China als Importprodukt mit der schlechtesten Note D– getestet. Ab diesem Jahr will das Team sich weiter vorwagen und auch chinesische Produkte untersuchen. „Kann das nicht auch gefährlich werden?“, fragt Promotionsstipendiat Daniel Rumel. Doch Böwer versichert, dass vor allem die chinesischen Kollegen genau wissen, wo bei Kritik die rote Linie ist.

Eine Initiative für Wanderarbeiter

Von den Wolkenkratzern im Zentrum der 22-Millionen-Metropole fahren wir in einen der Außenbezirke, wo Fabriken Tausende Wanderarbeiter aus den Provinzen anlocken. Hier sind die Häuser hastig und schmucklos hochgezogen. Viele Arbeiter teilen sich ein Zimmer mit anderen. Ein rauchiger Geruch von Kohleöfen zieht durch die staubigen Straßen, an denen fliegende Händler gebratenen Reis oder scharf gewürzte Spieße anbieten. Hier draußen haben Xu Duo und seine Kollegen eine Initiative für Wanderarbeiter aufgebaut. In einem Land, in dem zivilgesellschaftliche Aktivität nicht erwünscht ist und oft verhindert wird, ist das etwas Besonderes. 

Xu Duo, der uns nur seinen Spitznamen sagt, führt uns durch das kleine Museum des Arbeiterkulturzentrums. Die Wände sind mit Informationen zu Löhnen und Verträgen sowie Fotos aus dem Alltag der Wanderarbeiter gepflastert. Dazwischen hängen Zeichnungen von Arbeitsunfällen oder Eindrücke, die die Kinder der Arbeiter festgehalten haben. Es ist die Alltagskultur von Menschen, die in den schnelllebigen Megacitys ansonsten unsichtbar bleiben. Xu Duo erklärt, dass rund 270 Millionen Menschen ihre Heimat verlassen haben, um meist in den großen Städten zu arbeiten. Etwa ein Drittel davon waren Bauern. 

Diese sogenannten Wanderarbeiter sind oft weder kranken- noch rentenversichert. Meistens fehlt ihnen auch das Stadtrecht, das ihnen den Arztbesuch oder den Kindern einen Schulplatz ermöglicht. Deshalb haben Xu Duo und seine Kollegen hier eine Schule für Wanderarbeiterkinder gegründet. Die Wände des geräumigen Schulhofs sind bunt bemalt. Vor dem Tor holen die Erwachsenen ihre Kinder mit Motorrollern ab. Einmal schon stand die ungewöhnliche Schule kurz vor der Schließung. Das Projekt war einigen Lokalpolitikern wohl ein Dorn im Auge. Die Wanderarbeiterorganisation will vor allem die Identität und Solidarität unter den Arbeitsmigranten stärken – sie bietet auch juristische Unterstützung an.

Wie wir beim Gespräch in der deutschen Botschaft erfahren, wird der Interessengegensatz zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in China nicht offen ausgetragen. „Es gibt keine kollektive, vernetzte Arbeiterbewegung, die landesweit agiert“, sagt Sozialreferent und IG-Metaller Frederic Speidel. „Was wir aber beobachten, ist ein zunehmendes kollektives Bewusstsein der Arbeiter für die eigene Lage.“ Der Allchinesische Gewerkschaftsbund agiert dabei nicht als klassischer Vertreter der Arbeiterschaft.

Obwohl es offiziell kein Streikrecht gibt, finden nirgendwo auf der Welt mehr Arbeitskämpfe statt als in China. Viele Beschäftigte organisieren sich informell, auch ohne die Unterstützung der staatlichen Gewerkschaft. Wie Zhou Haibin, National Project Officer bei der ILO in Peking, den Studierenden erklärt, hat China unter anderem die ILO-Konventionen zu Kollektivverhandlungen und zur Vereinigungsfreiheit nach wie vor nicht ratifiziert. Trotzdem gäbe es auch gute Nachrichten. So steigen selbst die Mindestlöhne stärker als die Inflation. Doch die Stipendiaten beschäftigt vor allem, dass trotz jährlicher Lohnsteigerungen von rund acht Prozent die soziale Ungleichheit weiter wächst. 

Mehr als 10.000 Euro für ein Nummernschild

Das ist nicht nur in Peking zu spüren. Mit dem Hochgeschwindigkeitszug reisen wir weiter ins 1200 Kilometer entfernte Shanghai, die Wirtschaftsmetropole des Landes. In einem Joint Venture mit dem Staatsunternehmen SAIC baut VW hier unter anderem den Polo und den Passat. In der Produktionshalle greifen mehrarmige Schweiß-Roboter nach den Autoteilen. Durchsichtige Wände schirmen die sprühenden Funken ab. Junge Arbeiter in Blaumännern greifen nicht nur zum Werkzeug, sondern auch immer wieder zu ihren Thermoskannen mit Grüntee, die in den Regalen neben dem Fließband stehen. 

Pausenecken in der Produktionshalle, Taschen an der Arbeitskleidung: Das sind die Themen von Cheng Li, die als Vizevorsitzende der Betriebsgewerkschaft die gut 20 000 Arbeiter vertreten soll. Eine direkte Konfrontation mit dem Arbeitgeber versucht sie dabei zu vermeiden: „Wir sammeln Verbesserungsvorschläge oder besuchen die Mitarbeiter zu Hause, um zu sehen, ob jemand Probleme hat“, sagt uns die Gewerkschafterin. Aber sie habe auch schon einige Erfolge erzielt. Zum Beispiel haben sie und ihre Kolleginnen durchgesetzt, dass es an dem Standort ein Jahr Elternzeit gibt statt der gesetzlich vorgeschriebenen drei Monate.

Sie ist stolz auf die Auszeichnungen, die sie und ihre Kolleginnen vom Allchinesischen Gewerkschaftsbund bekommen haben. Dennoch sei sie auch ein bisschen neidisch auf die Möglichkeiten, die es für Arbeitnehmer in Europa gäbe, sagt Cheng Li. In China würden Arbeitgeber zum Beispiel kaum in Aus- oder Weiterbildung finanzieren, weil sie Angst hätten, ihre Mitarbeiter an besser bezahlende Konkurrenten zu verlieren. Und noch ein Unterschied ist auffällig: In Deutschland fahren auch viele Arbeiter ihr eigenes Auto. In Shanghai ist das kaum vorstellbar. Je nach Nachfrage kostet allein ein Nummernschild deutlich mehr als umgerechnet 10.000 Euro. Es gibt inzwischen mehr Autos, als die Umwelt verkraften kann.

Der Geoingenieur Pan Tao ist deshalb aus der Stadt herausgezogen, zumindest für die Wochenenden. Im urbanisierten China ein ungewöhnlicher Schritt. In Käppi und Gartenkleidung empfängt er uns zwischen seinen Reisfeldern und der Gartenkolonie. „Hier habe ich 20 Prozent weniger Smog als in der Stadt“, sagt der Unternehmer und führt die Gruppe an Gewächshäusern und einer Solaranlage vorbei. Auf einer Fläche von achteinhalb Hektar vermietet er Parzellen, die man selbst bepflanzen kann. Zusätzlich hat er 15 Bauern aus der Umgebung eingestellt, die Biogemüse heranziehen und sich um die Tiere kümmern. 300 Shanghaier – meist aus der oberen Mittelschicht – haben sich in seine Öko-Community eingemietet. 

„Die Kinder hier wissen ja nichts mehr vom Leben auf dem Land. Diese Fähigkeiten gehen innerhalb von ein, zwei Generationen verloren“, sorgt sich Pan Tao. Deshalb ist in seinem hölzernen Clubhaus auch Raum für alternative Umwelterziehung. Doch die Lokalregierung macht ihm Schwierigkeiten, will nicht, dass er weitere Holzhütten aufstellt. „Warum organisieren Sie sich nicht als Verein?“, fragt die Studierende Katherina Volkov und erfährt, dass das in China politisch sehr schwierig ist. Pan Tao ist noch im Wohnheim der staatlichen Fabrik aufgewachsen, in der sein Vater gearbeitet hat. Für das heutige China wünscht er sich, dass mehr auf Nachhaltigkeit gesetzt wird. Bislang ist das Milliardenreich für ein Viertel des weltweiten Treibhausgasausstoßes verantwortlich. Das Land hat sich ehrgeizige Ziele gesetzt. Bis 2030 will es 20 Prozent des Energiebedarfs aus nicht fossilen Quellen decken. Dominik Klaus, der Erneuerbare Energien studiert, setzt auf China: „Ich hoffe, dass sie als bevölkerungsreichstes Land in meinem Studienfach eine Vorreiterrolle einnehmen.“

Der Allchinesische Gewerkschaftsbund

Mit 280 Millionen Mitgliedern ist der Allchinesische Gewerkschaftsbund (ACGB) die größte Gewerkschaftsorganisation weltweit. Doch er ist nicht unabhängig; freie Gewerkschaften sind verboten. Da die Arbeiter als Herren der Fabriken gelten, ist er hauptsächlich mit organisatorischen Aufgaben wie der Verwaltung von Sozialeinrichtungen betraut. 

Die Grundstruktur ist seit Jahrzehnten im Kern unverändert. Auf jeder Ebene unterstehen die Gewerkschaftsgremien dem entsprechenden Parteikomitee, und auf betrieblicher Ebene ist es nicht unüblich, dass dieselbe Person Parteisekretär ist und den Vorsitz der Gewerkschaft innehat.

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