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HBS Böckler Impuls

Tarifrecht: Vorteil für Gewerkschaftsmitglieder zulässig

Ausgabe 09/2016

Dürfen Gewerkschaften Tarifverträge abschließen, die bestimmte Leistungen nur für ihre Mitglieder vorsehen? Laut einem Rechtsgutachten sind Vorteile bis zur doppelten Höhe des Mitgliedsbeitrags unproblematisch.

Um faire Tarifabschlüsse durchsetzen zu können, brauchen Gewerkschaften möglichst viele Mitglieder. Um in den Genuss dieser Abschlüsse zu kommen, müssen Beschäftigte dagegen nicht organisiert sein: Da Tarifverträge üblicherweise für die gesamte Belegschaft gelten, profitieren auch Trittbrettfahrer. Ein denkbarer Ausweg aus diesem Dilemma wären sogenannte Differenzierungsklauseln, die bestimmte Vorteile wie Einmalzahlungen, zusätzliches Urlaubsgeld oder Leistungen der betrieblichen Altersversorgung von der Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft abhängig machen. Raimund Waltermann hat für das Hugo Sinzheimer Institut für Arbeitsrecht geprüft, inwieweit solche Klauseln in Tarifverträgen rechtlich zulässig sind. Der Juraprofessor von der Universität Bonn kommt zu dem Ergebnis, dass es hier durchaus Spielraum gibt.

Die Tarifautonomie sei für die Architektur der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von fundamentaler Bedeutung und vom Grundgesetz geschützt, schreibt Waltermann. Das lege den Schluss nahe, dass die Rechtsordnung Anreize zum Gewerkschaftsbeitritt eher befördert als begrenzt. Denn eine funktionsfähige Tarifautonomie setze einen angemessenen Organisationsgrad voraus.

Tatsächlich habe die Rechtsprechung gegen einfache Differenzierungsklauseln – die beispielsweise eine Einmalzahlung von 300 Euro für Gewerkschaftsmitglieder vorschreiben – keine Bedenken, so der Jurist. Anders sehe es bei qualifizierten Klauseln aus, die sich auf Vereinbarungen des Arbeitgebers mit nicht Organisierten auswirken. Spannenklauseln lassen die Übertragung von Sonderleistungen auf Außenseiter zu, begründen aber für diesen Fall einen zusätzlichen Anspruch der Gewerkschaftsmitglieder in gleicher Höhe, sodass die Spanne zwischen Mitgliedern und Außenseitern gewahrt bleibt. Das hieße im Fall der Einmalzahlung: Wenn den nicht organisierten Beschäftigten ebenfalls 300 Euro gezahlt werden, hätten die organisierten Beschäftigten Anspruch auf insgesamt 600 Euro. Entsprechende Vereinbarungen hat das Bundesarbeitsgericht für unzulässig erklärt – was Waltermann für fragwürdig hält.

Die Gegner von Differenzierungsklauseln berufen sich zum einen auf die „negative Koalitionsfreiheit“. Damit ist gemeint, dass niemand zur Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft oder einem Arbeitgeberverband gezwungen werden darf. Spannenklauseln seien tatsächlich ein starker Anreiz, so der Autor. Allerdings könne der „Druck“, den sie ausüben, durchaus gerechtfertigt sein, da Mitgliederwerbung ein legitimes Ziel ist und Differenzierungsklauseln ein geeignetes Mittel darstellen. Dabei gelte der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. „Unverhältnismäßiger Druck entsteht nicht schon dadurch, dass einem sonst ein Vorteil entgeht. Niemand ist genötigt eine Bahncard zu erwerben, weil er nur dann den Vorteil hat, zum halben Preis zu fahren.“ Vieles spreche für die Annahme, dass man sich bis zu einem geldwerten Vorteil in Höhe des doppelten Gewerkschaftsbeitrags im sicheren Bereich bewegt.

Ein anderer Einwand: Spannenklauseln seien deshalb unwirksam, weil sie Unternehmen die Gleichstellung von Gewerkschaftsmitgliedern und Außenseitern rechtlich-logisch unmöglich machen und damit in die Vertragsfreiheit eingreifen. Waltermann sieht das anders: Der Mechanismus der Spannenklausel komme nur in Gang, wenn Arbeitgeber den Vorteil kollektiv gewähren, also per Gesamtzusage oder Formulararbeitsvertrag. Individuelle Vereinbarungen seien dagegen jederzeit möglich, sodass die Vertragsfreiheit der nicht organisierten Beschäftigten unberührt bleibe.

Die Freiheit des Arbeitgebers, bestimmte kollektive Vereinbarungen abzuschließen, werde dagegen tatsächlich eingeschränkt. Daraus folge aber nicht zwingend, dass Spannenklauseln rechtswidrig sind. Vielmehr gelte es, zwischen der Vertragsfreiheit der Arbeitgeber und der Bestandsgarantie der Gewerkschaften abzuwägen. Angesichts der überragenden Bedeutung der Tarifautonomie sei es gerechtfertigt, Anreize für eine Gewerkschaftsmitgliedschaft vertraglich zu verankern. Außer Differenzierungsklauseln seien keine anderen effektiven Mittel erkennbar, die vergleichbar milde diesen Zweck erfüllen.

Das Fazit des Experten: „Die Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit ist in der auf Mitgliedschaft aufbauenden deutschen Tarifautonomie nicht prinzipiell problematisch.“ Die Gerichte sollten bestrebt sein, der Gestaltungsfreiheit der Tarifparteien mit großem Respekt zu begegnen. Was die Zulässigkeit von Spannenklauseln angeht, empfiehlt er den Gang zum Bundesverfassungsgericht.

  • Der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder an allen Beschäftigten variiert enorm zwischen den EU-Ländern. Zur Grafik

Raimund Waltermann: Differenzierungsklauseln im Tarifvertrag in der auf Mitgliedschaft aufbauenden Tarifautonomie (pdf), HSI-Schriftenreihe Band 15, Bund-Verlag, Frankfurt a. M., 2016

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