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HBS Böckler Impuls

Arbeitsmarkt: Mehr Beschäftigung mit Mindestlohn

Ausgabe 14/2015

Ökonomen haben massive Arbeitsplatzverluste durch den Mindestlohn vorhergesagt. Damit lagen sie ziemlich daneben.

Im Gegensatz zur internationalen Forschung war sich die Wirtschaftswissenschaft hierzulande weitgehend einig – der gesetzliche Mindestlohn werde auf jeden Fall Beschäftigung kosten, je nach Modellrechnung bis zu 1,5 Millionen Jobs. Eine erste Zwischenbilanz nach der Einführung am 1. Januar 2015, die WSI-Forscher Thorsten Schulten und Claudia Weinkopf vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) vorgelegt haben, zeigt: Die Unkenrufe haben sich nicht bewahrheitet. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Stellen hat seit Jahresbeginn weiter zugenommen, die kräftigsten Zuwächse verzeichnen Branchen, die besonders stark vom Mindestlohn betroffen sind.
Laut Schulten und Weinkopf, die Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA) und des Statistischen Bundesamts ausgewertet haben, ist die Zahl der Arbeitslosen zwischen Dezember 2014 und Juni 2015 saisonbereinigt um 55.000 oder 2 Prozent gesunken. In Ostdeutschland – wo anteilig mehr Beschäftigte vom Mindestlohn profitiert haben dürften – war der Rückgang mit 3,4 Prozent mehr als doppelt so hoch wie im Westen. In den ersten vier Monaten des Jahres sind deutschlandweit 216.000 neue sozialversicherungspflichtige Jobs entstanden.

Gastgewerbe profitiert am meisten

Den prozentual größten Zuwachs weist mit dem Gastgewerbe eine „klassische Niedriglohnbranche“ auf. Auch bei der Leiharbeit, den „sonstigen wirtschaftlichen Dienstleistungen“, zu denen beispielsweise Wachdienste, Gebäudereinigung und Callcenter gehören, im Sozialwesen und im Bereich Verkehr und Lagerei hat die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung überdurchschnittlich zugelegt, zugleich dürfte der Mindestlohn vielen Arbeitnehmern in diesen Branchen Gehaltssteigerungen beschert haben. In den einzigen Wirtschaftszweigen mit Arbeitsplatzverlusten – Finanzdienstleistungen, öffentliche Verwaltung und Energiewirtschaft – spielen Niedriglöhne dagegen kaum eine Rolle. „Bei der Entwicklung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse lassen sich bislang keine negativen Effekte des Mindestlohns nachweisen“, urteilen die Arbeitsmarktexperten.

Ein anderes Bild ergibt sich bei den Minijobs: Laut BA hat die Zahl der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse seit Dezember 2014 um 206.000 abgenommen, die Minijob-Zentrale weist ein Minus von 190.000 im ersten Quartal 2015 aus. Allerdings sei dieser Rückgang nicht einfach mit Arbeitsplatzverlusten gleichzusetzen, erklären Schulten und Weinkopf. Es sei durchaus möglich, dass ein erheblicher Teil der ehemaligen Minijobs in reguläre Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt wurde. Dafür spreche die deutliche Zunahme der sozialversicherungspflichtigen Stellen in Branchen wie dem Gastgewerbe.

Während die prophezeiten Jobverluste nicht nachweisbar sind, halten die Autoren einen Zusammenhang zwischen der Preisentwicklung in bestimmten Bereichen und dem Mindestlohn für plausibel. Dass landwirtschaftliche Produkte wie Obst und Gemüse seit Dezember 2014 um bis zu 11,5 Prozent, die Personenbeförderung im Straßenverkehr um 10,1 Prozent und Zeitungen und Zeitschriften um 4,2 Prozent teurer geworden sind, könnte zumindest teilweise der neuen Lohnuntergrenze geschuldet sein. Gesamtwirtschaftlich seien die Auswirkungen aber nicht spürbar: „Der durchschnittliche Anstieg der Verbraucherpreise war im Gegenteil mit 0,4 Prozent äußerst gering, was vor allem an den rückläufigen Energiepreisen liegt.“

Bei der praktischen Umsetzung des Mindestlohns sehen die Wissenschaftler durchaus noch Verbesserungsbedarf. So gehe aus dem Gesetz nicht eindeutig hervor, welche Vergütungsbestandteile bei der Berechnung von Stundenlöhnen berücksichtigt werden dürfen. Zahlreiche Anrufe bei den Hotlines des Bundesarbeitsministeriums und des DGB belegten, dass dies zu Unsicherheit bei Betrieben und Beschäftigten geführt hat. Die Kritik von Arbeitgeberverbänden und Unionsparteien an der Verpflichtung zur Dokumentation von Arbeitszeiten halten Schulten und Weinkopf dagegen für unberechtigt. Zum einen sei die Aufzeichnung von Arbeitszeiten in vielen Bereichen ohnehin schon immer üblich gewesen. Zum anderen seien ohne entsprechende Dokumentationen „wirksame Kontrollen der Mindestlohneinhaltung schlichtweg unmöglich“.

  • In den ersten vier Monaten des Jahres 2015 sind 216.000 neue sozialversicherungspflichtige Jobs entstanden. Die kräftigsten Zuwächse verzeichnen Branchen, die besonders stark vom Mindestlohn betroffen sind. Zur Grafik


Thorsten Schulten, Claudia Weinkopf:
Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns – eine erste Zwischenbilanz, in: Stefan Körzell, Claudia Falk (Hg.): Kommt der Mindestlohn überall an? Eine Zwischenbilanz, VSA, Hamburg 2015
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