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Magazin Mitbestimmung

Smart Factory: Zu Besuch in der digitalen Fabrik

Ausgabe 01/2015

Alle reden von Industrie 4.0. Doch was verbirgt sich tatsächlich hinter der Digitalisierung der Produktion? Ein Besuch in einer der modernsten Fabriken der Welt. Von Andreas Kraft

Auf halbem Weg von Nürnberg nach Tschechien schmiegt sich Amberg mit seinen Fachwerkhäusern in die Hügel der Oberpfalz. Die Avantgarde würde in dem 40 000-Einwohner-Städtchen sicher niemand vermuten. Doch wer einen Blick in die Zukunft der Industriearbeit werfen will, muss genau hierher fahren. Denn am Stadtrand steht eine der ersten digitalen Fabriken der Welt. Und sie ist hocheffizient: Seit 25 Jahren stellen die Beschäftigten – meist um die 1000 – in dem Elektronikwerk von Siemens die Simatic her. Von hier aus geht sie an Kunden auf der ganzen Welt. Mit der programmierbaren Steuerung lässt sich so gut wie alles bedienen: der Vorhang im Theater, die Kessel in einer Brauerei oder die Fließbänder in einer Autofabrik. Siemens beherrscht von hier den Weltmarkt in der Steuerungstechnik. Ein Milliardengeschäft. Vor dem Büro von Werksleiter und Vice-President Manufacturing Karl-Heinz Büttner steht eine Leiter. Zwei Mitarbeiter ruckeln an einer Deckenplatte. Damit die Daten schneller fließen, soll die Chefetage ein neues WLAN bekommen. Doch die Platte verhakt sich immer wieder. Büttner erzählt derweil, wie er zu Siemens gekommen ist. Früher war der studierte Informatiker und Elektrotechniker bei Zeiss in Jena. Als die Mauer fiel, fuhr er mit seiner Familie nach Erlangen und lernte dort zufällig einen Siemens-Manager kennen, der ihn ins Unternehmen holte. Büttner arbeitete weltweit für den Konzern, bevor er vor etwa sechs Jahren nach Amberg kam. Er schaut nach oben. Die Platte sitzt. Das neue WLAN läuft.

Das Werk hat sein eigenes Netz, das nach höchsten Sicherheitsstandards vom Internet abgeschottet ist. Regelmäßig prüfen Experten, ob da nicht doch irgendwo eine Lücke ist, über die Angreifer eindringen könnten. Denn die Daten, die hier fließen, verraten alles darüber, was am Standort gerade passiert. Büttner kann zu jedem Zeitpunkt von seinem Rechner aus sehen, was auf welcher Maschine gerade gebaut wird und wie viele Fehler dabei auftreten.

„Unsere Kunden sollen sich voll auf uns verlassen können“, sagt Büttner. Denn wenn die Simatic einmal ausfallen sollte, steht die Produktion still beim Kunden. Siemens will daher ein möglichst fehlerfreies Produkt liefern und kommt der Perfektion immer näher. Die Fehlerquote im Werk liegt nicht mal mehr im Promillebereich. Die Prozessqualität des Elektronikwerkes Amberg liegt bei sagenhaften 99,9988 Prozent. Das liegt auch daran, dass hier die Produktion immer weiter digitalisiert wird.

Inzwischen wird alles in Daten übersetzt: Alle Bauteile lassen sich identifizieren; jedes Produkt bekommt seine ihm eigene Nummer; es wird festgehalten, wann was in welcher Maschine bei welcher Temperatur gelötet wurde oder welches Drehmoment die Maschine gerade hatte. Jeden Tag kommen so mehr als 50 Millionen Datensätze zusammen. Die Daten werden live ausgewertet, und die Produktion wird umfassend analysiert. Tritt irgendwo ein Fehler auf, lässt sich so auch die Ursache rekonstruieren.

„Aber die Informationen allein reichen dafür nicht aus“, sagt Büttner. „Eine erfolgreiche digitale Fabrik braucht auch die entsprechende Kultur.“ Eine so hohe Qualität wie in Amberg lasse sich nämlich nur erreichen, wenn niemand versuche, etwas zu vertuschen. „Wir suchen hier daher keine Schuldigen, sondern die Ursache der Fehler.“ Ein Teil des Qualitätsmanagements verdeutlicht das anschaulich: Die Beschäftigten dort machen mit per Stichprobe ausgewählten Produkten, was ihnen gerade einfällt. Sie lassen sie auf den Boden fallen oder legen sie unter ein Mikroskop. In einem Fall entdeckte dabei ein Kollege auf einer Leiterplatte winzige Metallspäne. Für eine elektronische Steuerung kann das fatal enden – nämlich in Kurzschluss und Produktionsstillstand. Nach langem Suchen wurde auch die Fehlerquelle gefunden: Muttern und Schrauben passten nicht perfekt zusammen. Beim Zusammenschrauben lösten sich so Späne. Das Werk stellte auf geschlossene Muttern um. Jetzt sind die Späne weg.

BETRIEBSRAT IMMER MIT AM TISCH

Büttner öffnet die Tür zur Produktionshalle. Ein Surren liegt in der Luft. Die Maschinen stehen dicht an dicht. Schmale Schneisen dienen als Wege. Am Rand der Halle stehen vier Siemens-Mitarbeiter in blauen Kitteln und blättern in ihren Papieren. „Sie gehören nicht zum Werk“, sagt Büttner. „Die sind von der Standortverwaltung. Von uns hat keiner Papier.“ Überall in der Werkshalle hängen Monitore, die den Mitarbeitern benötigte Informationen einblenden. Wenn etwa Beschäftigte die Leiterplatten auf Fehler kontrollieren, werden sie auch dabei vom Computer unterstützt. Auf einem Foto des Produkts markieren Pfeile die zu prüfenden Lötstellen. Am Bildschirm erscheint ein kleines Feld, in dem steht, wie die Stelle normal aussehen sollte: „Polung ist kleiner Punkt“, und wie sie beschriftet sein sollte: „ESSA4_B“. 

Selbst das Schwarze Brett des Betriebsrates ist digital. Am Rand der Halle steht ein Terminal mit Tastatur. Die Kollegen können hier Fahrgemeinschaften organisieren, die nicht mehr benötigten Babybettchen verkaufen und sich natürlich über die Arbeit ihrer Interessenvertreter informieren. Die Betriebsräte lehnen den Wandel nicht ab, sondern versuchen, ihn zu gestalten. „Man muss an das Thema Digitalisierung schon mit dem nötigen Respekt rangehen“, sagt Volker Jung, der Betriebsratsvorsitzende des Standortes Amberg. „Aber Angst ist da ein schlechter Berater.“ Jung vertritt nicht nur die derzeit 1200 Beschäftigten des Elektronikwerkes, sondern die rund 5000 Kollegen des gesamten Standortes. Er denkt beim Stichwort Industrie 4.0 nicht in Vorher-nachher-Kategorien. Es gab in Amberg einfach keinen Startpunkt, alles hat sich nach und nach entwickelt. Erst dann tauchte der Begriff in der öffentlichen Debatte auf. Aber wenn er heute zurückblicke, habe die Digitalisierung für die Arbeit vor allem eine Folge gehabt: Viele einfache Routinetätigkeiten seien weggefallen. Darauf müsse auch jeder Betriebsrat gefasst sein, dessen Unternehmen jetzt die Produktion umstellen wolle. Er rät den Kollegen daher, zusammen mit dem Arbeitgeber genau darauf zu schauen, welche Qualifikationen in der smarten Fabrik benötigt werden, und die Mitarbeiter entsprechend so weiterzubilden, damit jeder auch nach der Umstellung noch einen Arbeitsplatz hat. 

In Amberg hat der Betriebsrat inzwischen auch die passende Organisationsstruktur für den ständigen Wandel gefunden. Im Ausschuss für neue Technologien und Arbeitsformen lassen sich die Arbeitnehmervertreter regelmäßig über die neusten Entwicklungen informieren. „Bei Siemens geht der Betriebsrat mit dem Thema Rationalisierungen schon immer sehr konstruktiv um“, sagt Jung. „Wir haben das nie als Bedrohung gesehen. Die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens ist ja entscheidend für die Sicherheit der Arbeitsplätze.“ Sicherheit gibt auch eine konzernweite Vereinbarung, nach der es bei Rationalisierungen keine betriebsbedingten Kündigungen geben darf. Im Simatic-Werk in Amberg habe es noch nie zur Diskussion gestanden, Arbeitsplätze abzubauen. Was auch an dem großen Erfolg des Produkts liegt und an den entsprechenden Gewinnmargen. Kontinuierlich investiert Siemens jährlich rund 20 Millionen Euro in neue Anlagen. Laut Werksleiter Büttner ein verschwindend geringer Betrag im Vergleich zum Umsatz des Werkes. 

KLEINE LOSGRÖSSEN „ON DEMAND“

Wann welche Produkte produziert werden, ergibt sich ebenfalls aus der Analyse der Daten. Denn produziert wird auf Nachfrage, also „on demand“ – und das mit dem Anspruch, dass 24 Stunden nach der Bestellung die Simatic auf dem Weg zum Kunden ist. Möglich wird das mit drei Lagern in den USA, in China und in Deutschland, die als Puffer dienen. In Amberg lässt sich über die von dort geschickten Daten erkennen, welches Regalfach sich gerade leert und welche Produkte gerade besonders gefragt sind. Die Produktion wird dann entsprechend an die Nachfrage angepasst – auch bei sehr geringen Stückzahlen. 

Auf den neusten Produktionslinien zeigt sich, wie sich auch kleine Stückzahlen durch die Digitalisierung effizient produzieren lassen. Die Beschäftigten wechseln dort immer wieder zwischen verschiedenen Stationen hin und her. Löten hier einen Chip fest, ziehen dort ein paar Schrauben nach oder stecken das Steuerungsmodul am Ende mit der Bedienungsanleitung in die Verpackung. Bis zu 100 verschiedene Produkte können an den neuen Montageinseln produziert werden. Menschen, Automaten und Roboter arbeiten Hand in Hand. An den einzelnen Stationen versorgen auch hier Monitore die Mitarbeiter mit den nötigen Informationen. So behalten sie den Überblick über die verschiedenen Produkte. Den Takt am Band geben dabei die Menschen vor, sagt Werksleiter Büttner. Wenn es sich an einer Station staut, drehen die Produkte eine Runde in der Warteschleife. Peter Gruber, Teamleiter an einer dieser neuen Linien, begrüßt die Digitalisierung: „Es ist schon wirklich vieles einfacher geworden. Die Technik hilft dabei, Fehler zu vermeiden.“ Gleichzeitig sei die Arbeit durch die vielen Wechsel zwischen den Stationen und Produkten abwechslungsreicher geworden. 

Ein paar Meter weiter löten Maschinen quasi im Alleingang Chips auf Leiterplatten. Der Roboterarm greift den benötigten Chip von einer großen Rolle, fährt zurück zur Leiterplatte, steckt ihn auf, lötet ihn fest. Das Programm kommt direkt von den Ingenieuren. Sie entwickeln im Büro, wie die entsprechende Leiterplatte aussehen soll und wie die Maschine sie zusammensetzt. Die Informationen werden über das Netzt direkt aufgespielt, und die Produktion startet quasi von allein.

Die Beschäftigten in der Werkshalle legen hier nur noch die großen Rollen nach, auf denen die Chips geliefert werden, und greifen ein, wenn es hakt. So wie neulich, als eine Maschine sich beschwerte, dass die Chips nicht an die vorgesehene Stelle passten. Der Mitarbeiter kontrollierte die Rolle, doch die Typenbezeichnung stimmte. Er schaute sich den Chip näher an, und es zeigte sich, dass beim Zulieferer die Rolle einfach falsch beschriftet worden war.

Aber die Fehlerkontrolle endet nicht, wenn das Produkt das Werk verlassen hat. Jede Steuerungseinheit, jedes Modul hat seinen eigenen Lebenslauf, der gespeichert wird und auf den zugegriffen werden kann, wenn das Gerät irgendwann beim Kunden ausfällt und als Garantiefall zurückkommt. So lässt sich auch Jahre später noch rekonstruieren, wie das Produkt genau gefertigt wurde.

Welche Potenziale noch in der Analyse der immensen Datenmengen stecken, lässt sich jetzt noch nicht mal erahnen. Eine Idee hat Büttner aber schon: Er würde seinen Kunden – den Dramaturgen, Braumeistern und Fabrikbetreibern – gern voraussagen können, wann ihre Simatic wohl ihre Altersgrenze erreicht hat. Damit sie rechtzeitig ausgetauscht werden kann und die Produktion flüssig weiterläuft.

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