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HBS Böckler Impuls

Mindestlohn: Noch einiges zu klären

Ausgabe 18/2014

Damit der Mindestlohn ein Erfolg wird, ist noch einiges zu tun. Das zeigen die Erfahrungen mit branchenspezifischen Regelungen und im europäischen Ausland.

Der Bundestag hat den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn im Juli 2014 beschlossen, ab Januar 2015 steht die Umsetzung an. Was es dabei zu beachten gilt, hat das WSI im Auftrag der Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung in NRW untersucht. Hintergrund ist die Landesinitiative „Faire Arbeit – Fairer Wettbewerb“. Für ihre Studie haben die WSI-Forscher Thorsten Schulten und Nils Böhlke, der Londoner Sozialwissenschaftler Pete Burgess, Catherine Vincent vom Pariser Institut de Recherches Economiques et Sociales und Ines Wagner von der Universität Groningen die Mindestlohn-Praxis in Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden analysiert. Außerdem haben sie sich mit der Durchsetzung von Lohnuntergrenzen in einzelnen deutschen Branchen befasst. Ihrer Analyse zufolge bedarf die Einführung des Mindestlohns einer aktiven Gestaltung. Nötig seien klarere Regeln, wirksame Kontrollen, eine breite Informationskampagne und ein Dialog zwischen Unternehmen und Gewerkschaften.

Transparente Vorschriften: Um überprüfen zu können, ob die künftige Lohnuntergrenze eingehalten wird, wären klare Vorgaben dafür nötig, wie die tatsächliche Lohnhöhe zu berechnen ist. Das Problem: In der vom Bundestag beschlossenen Regelung fehlt nach Analyse der Forscher eine solche präzise Definition. Wenn es darum geht, welche Einkommensbestandteile in die Kalkulation einfließen dürfen, verweist die Bundesregierung auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs. Demnach dürfen Arbeitgeber nur das berücksichtigen, was sie für die vertraglich vereinbarte „Normalleistung“ zahlen. Das heißt: Tätigkeiten, die über das Normalmaß hinausgehen, sind extra zu vergüten. Das betrifft beispielsweise Zuschläge für Sonn- und Feiertagsarbeit, Gefahrenzulagen oder Trinkgelder. Dagegen herrsche Uneinigkeit darüber, wie mit Weihnachts- und Urlaubsgeld oder Verpflegung und Unterkunft umzugehen ist, monieren die Autoren. Für Unternehmen und Beschäftigte sei damit teilweise nicht nachvollziehbar, wer durch den Mindestlohn Anspruch auf eine Lohnerhöhung hat. Hier wäre nach der WSI-Analyse eine Klarstellung durch den Gesetzgeber angebracht.

Korrekte Erfassung der Arbeitszeit: Da der Mindestlohn sich auf die Bezahlung pro Stunde bezieht, ist nicht nur die Lohnhöhe, sondern auch die Länge der Arbeitszeit maßgeblich. Auch hier sehen die Wissenschaftler weiteren Regelungsbedarf. Die Erfahrungen des europäischen Auslands und auf Branchenebene zeigten, dass die unkorrekte Erfassung der Arbeitszeit eine gängige Praxis zur Umgehung von Mindestlöhnen ist. Zum einen müssten Beschäftigte oft unbezahlte Mehrarbeit leisten – das passiert auch und gerade in Deutschland: Umfragen zufolge macht ein Fünftel der deutschen Beschäftigten regelmäßig Überstunden, die nicht vergütet werden. Zum anderen lüden Vergütungssysteme mit Stücklöhnen sowie Akkordarbeit zum Missbrauch ein, die gerade im Niedriglohnbereich weit verbreitet sei. Arbeitgeber könnten versucht sein, bei der Berechnung von Stundenlöhnen von unrealistisch hohen Arbeitsanforderungen auszugehen. Darüber hinaus lasse das Mindestlohngesetz offen, wie mit „besonderen Arbeitszeiten“ wie Bereitschaftsdienst oder Anfahrts- und Wartezeiten zu verfahren ist.

Effektive Kontrollen: Um Verstößen gegen das neue Gesetz vorzubeugen, ist der Studie zufolge eine angemessene Kontrolldichte unerlässlich. Erfahrungen zeigten zwar, dass sich die große Mehrheit der Unternehmen gesetzeskonform verhält. Insbesondere in arbeitsintensiven Branchen wie dem Einzelhandel oder dem Gastgewerbe sei allerdings durchaus mit Umgehungsversuchen zu rechnen. In Frankreich und den Niederlanden gibt es jeweils eine umfassende Arbeitsinspektion, die das verhindern soll. Deutschland dagegen verfüge über eine fragmentierte Struktur unterschiedlicher Kontrollbehörden, schreiben die Forscher. Am wichtigsten sei die beim Zoll angesiedelte Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS). Dazu kommen landeseigene Kontrollstellen im Rahmen der öffentlichen Auftragsvergabe und die Rentenversicherung, die regelmäßig Betriebsprüfungen durchführt. Gewerbeaufsichtsämter, Arbeitsagenturen und Sozialkassen seien zwar nicht explizit zuständig, aber durchaus in der Lage, Verstöße aufzudecken. Wichtig wäre, dass diese verschiedenen Institutionen effizient zusammenarbeiten. Problematisch sei, dass die geplante Aufstockung der FKS um 1.600 Stellen erst in fünf Jahren abgeschlossen werden soll, da gerade in der Einführungsphase des Mindestlohns von besonders vielen Verstößen ausgegangen werden muss. Die Bußgelder von bis zu 500.000 Euro und die Möglichkeit, gesetzeswidriges Verhalten mit dem Ausschluss von öffentlichen Aufträgen zu bestrafen, dürften dagegen Wirkung zeigen: „Der damit geschaffene Sanktionsrahmen ist – sofern er in der Praxis auch tatsächlich ausgeschöpft wird – durchaus geeignet, eine präventive Regelung gegen Mindestlohnverstöße zu schaffen.“

Aufklärung und Durchsetzung von Ansprüchen: Neben wirksamen Sanktionen bedarf es laut der WSI-Studie gangbarer Verfahren, mit denen Arbeitnehmer ihre Mindestlohnansprüche geltend machen können. Eine wichtige Voraussetzung: Die Beschäftigten müssen sich über ihre Rechte im Klaren sein. Daher, so die Empfehlung, sollten Arbeitgeber verpflichtet werden, ihre Belegschaften über deren Ansprüche zu informieren. Außerdem müsse die Gehaltsabrechnung so gestaltet sein, dass die Einhaltung des Mindestlohns nachvollziehbar ist. Ähnlich wie in Großbritannien wäre zudem ein Mindestlohn-Rechner im Internet hilfreich. Dass das Arbeitsministerium mittlerweile ein Bürgertelefon eingerichtet hat und eine Informationsstelle für den Mindestlohn bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin geplant ist, begrüßen die Forscher. Denn es habe sich gezeigt, dass niedrigschwellige Beratungsmöglichkeiten eine wichtige Rolle spielen. Dazu werde auch eine Hotline beitragen, die der Deutsche Gewerkschaftsbund ab Anfang Januar anbieten will. Abgesehen von möglichst umfassender Aufklärung wären mehr kollektive Klagemöglichkeiten wünschenswert, betonen die Autoren: Aus Angst vor Sanktionen oder Jobverlust hätten viele Beschäftigte erfahrungsgemäß Hemmungen, Verstöße vor Gericht zu bringen. Helfen könnte ein Verbandsklagerecht wie in Frankreich, wo Gewerkschaften stellvertretend für Arbeitnehmer klagen können.

Gesellschaftliche Akzeptanz: Eine zentrale Herausforderung bestehe darin, den Mindestlohn zu einer allgemein akzeptierten Institution zu machen, schreiben die Wissenschaftler. Wenn das gelinge, so die Erfahrung anderer Länder, werde sich die Lohnuntergrenze weitgehend von alleine durchsetzen. Das Problem: Zwar befürworte die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung die neue Regelung, große Teile der Wirtschaft seien aber nach wie vor skeptisch. Die Autoren empfehlen Großbritannien als Vorbild: Dort habe eine umfassende Informationskampagne die Mindestlohneinführung begleitet. Zudem organisiere die Low Pay Commission einen breiten gesellschaftlichen Dialog und gebe regelmäßig wissenschaftliche Untersuchungen in Auftrag. Auch in Deutschland gelte es, Wirtschaftsverbände, Unternehmen, Gewerkschaften und Betriebsräte miteinander ins Gespräch zu bringen, um gemeinsam Probleme zu identifizieren und kreative Lösungen zu entwickeln. Vorbild könnten die bereits bestehenden Branchenbündnisse gegen Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung sein, in denen Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Zoll zusammenarbeiten.

  • Um überprüfen zu können, ob die künftige Lohnuntergrenze eingehalten wird, wären klare Vorgaben dafür nötig, wie die tatsächliche Lohnhöhe zu berechnen ist. Zur Grafik
  • Erfahrungen mit Branchen-Mindestlöhnen zeigen, dass unpräzise Regeln zu Umgehungsversuchen einladen. Zur Grafik

Thorsten Schulten, Nils Böhlke, Pete Burgess, Catherine Vincent, Ines Wagner: Umsetzung und Kontrolle von Mindestlöhnen: Europäische Erfahrungen und was Deutschland von ihnen lernen kann, Studie im Auftrag der Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung in NRW, September 2014

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