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Magazin Mitbestimmung

Europa: Am Scheideweg

Ausgabe 11/2014

Was ist zu tun, damit Europa unter der neuen EU-Kommission den Elan des Neuanfangs zu einem Kurswechsel nutzt und den in der Wirtschaftskrise eingeschlagenen Pfad verlässt? Der Europäische Gewerkschaftsbund bündelte seine Antworten Ende September in Brüssel. Von Margarete Hasel und Andreas Schulte

Für die hochkarätig besetzte Konferenz „Europa am Scheideweg“ („Europe at a crossroads“) hatten der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) und sein Forschungsinstitut EGI kräftig getrommelt: Vertreter der europäischen Politik sowie Experten aus Gewerkschaften und Wissenschaft aus ganz Europa waren dem Ruf gefolgt. Drei Tage lang debattierten sie über mögliche Wege zu besseren Arbeitsbedingungen und mehr sozialer Gerechtigkeit.

Der Tenor in den Foren und Plenardebatten war kämpferisch – auch wenn keiner der Referenten und Diskutanten den einen Königsweg aus der Krise aufzeigen konnte. Lösungswege für einzelne Teilbereiche hingegen präsentierten sie in großer Vielfalt. Europas Sparkurs ist eben nicht alternativlos, wie viele Politiker behaupten, und Arbeitslosigkeit wie soziale Ungerechtigkeit lassen sich sehr wohl bekämpfen. Mit dieser These brachte EGB-Generalsekretärin Bernadette Ségol den Ball ins Spiel. 

Diesen Ball griffen selbst die politischen Schwergewichte, die die Konferenz auf einem Podium eröffneten, gerne auf. Der scheidende EU-Sozialkommissar László Andor mahnte wortreich „eine Rekons­truktion des europäischen Sozialmodells“ an und forderte insbesondere eine „Regulierung der Finanzmärkte“. Andor verteidigte auch die 2013 auf den Weg gebrachte, milliardenschwere Jobgarantie für Jugendliche. „Sie ist kein Placebo.“ Er räumte allerdings Umsetzungsprobleme ein, weil viele EU-Länder bei der Entwicklung entsprechender Programme noch hinterherhinken.

„Die nächsten fünf Jahre sind entscheidend, um Vertrauen zurückzugewinnen“, unterstrich Pierre Moscovici. Der EU-Wirtschafts- und Währungskommissar sieht Europa an einem historischen Wendepunkt: Viele Bürger würden mittlerweile die Integrität der EU infrage stellen. „Deshalb müssen wir schnell handeln.“ Und beispielsweise für mehr Wachstum sorgen, denn das brauche Europa. Doch der ehemalige französische Finanzminister blieb die Antwort schuldig, wie die europäische Politik dies bewerkstelligen will. Eine Kehrtwende weg vom derzeitigen europäischen Sparkurs hin zu mehr öffentlichen Ausgaben kündigte er jedenfalls nicht an: „Bei der derzeitigen Staatsverschuldung ist Wachstum kaum möglich.“ Vorredner Claude Rolin dürfte das nicht gerne gehört haben. Der belgische Gewerkschafter und christdemokratische Europaparlamentarier forderte mehr Geld zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. 50 Prozent weniger Arbeitslose solle sich Europa bis 2020 zum Ziel setzen. 

Auch Martin Schulz wählte markige Worte. Der Präsident des Europäischen Parlaments sprach von einer „höchst explosiven Lage in Europa“ und von der „Bedrohung der Demokratie durch wachsende soziale Ungleichheiten“. Er forderte alle EU-Staaten auf, entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit Mindestlöhne einzuführen, um die Nachfrage anzukurbeln. Auch prangerte er die Steuerhinterziehung durch Unternehmen an. 

Schulz’ Forderung nach mehr Nachfrage geht einigen Wissenschaftlern aber nicht weit genug. Das wurde gleich in mehreren der insgesamt 16 Foren und vier Plenardebatten deutlich. So forderten Prakash Loungani vom Internationalen Währungsfonds, IWF und Andrew Watt vom Düsseldorfer Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung, IMK, Angebot und Nachfrage zugleich zu stärken. Beide zeigten sich überzeugt, dass sich Arbeitslosigkeit vermeiden lasse. Als Indiz führte Watt die unterschiedlichen Arbeitslosenquoten in Europa bei ähnlichen Voraussetzungen an. Nur einige Staaten hätten ihre Hausaufgaben gemacht, andere leider nicht, sagte er. 

Häufig wurden in den Foren strukturelle Gründe für die Krise in der EU ausgemacht. Stellvertretend für viele vermisste beispielsweise Stefan Collignon, Professor für Ökonomie an der Sant’Anna Hochschule in Pisa, in den politischen Institutionen Europas den dezidierten Willen zur Marktregulierung. Einigkeit herrschte vor allem auch beim Ruf nach einem umfassenden Investitionsprogramm zur Schaffung von Arbeitsplätzen und Wachstum. 

Kontrovers indes verlief der Abschluss der Konferenz. Bernadette Ségol hatte sich Markus Beyrer eingeladen. Der Vertreter von Business Europe, dem europäischen Dachverband der Arbeitgeber, konterte Ségols Forderung nach einem umfassenden Investitionsprogramm zur Schaffung von Wachstum und Arbeitsplätzen. Er beharrte auf dem eingeschlagenen Weg der europäischen Sparpolitik und forderte ein unternehmerfreundliches Umfeld. Der Wettbewerb werde für bessere Arbeitsbedingungen sorgen. Einig zeigten sich beide darin, dass die Krise nur gemeinsam von Arbeitgebern und Arbeitnehmern bewältigt werden kann. „Wir brauchen den sozialen Dialog.“

DIE FOREN

FORUM EUROPA: Vom Sozialmodell zum Sozialdumping? 

Zur Bekämpfung von Sozialdumping und Schwarzarbeit fehlt es den Staaten an grenzübergreifenden Kontrollmöglichkeiten. Die EU-Erweiterung hat das Problem verschärft. Die im Frühjahr verabschiedete sogenannte Durchsetzungsrichtlinie zur Entsenderichtlinie verspricht keine Besserung. Mittlerweile sind Fälle bekannt, in denen Philippiner für 2,40 Euro pro Stunde Lkw fahren. „Wir müssen die Arbeitnehmerrechte EU-weit stärken und Sanktionen für Unternehmen entwickeln“, fordert Veronica Nilsson, politische Sekretärin beim EGB. Volker Telljohann vom Institut für Sozialforschung (IRES) Emilia-Romagna: „Um Lohndumping durch Outsourcing in den Griff zu kriegen, müssen Gewerkschaften ihre Strategie nicht nur nach Betrieben und Branchen, sondern auch stärker an Wertschöpfungsketten ausrichten.“ 

FORUM GRÜNE JOBS: Mythos oder Wahrheit? 

Die Investitionen in die regenerativen Energien gehen weltweit seit 2011 zurück. Der Grund ist unter anderem eine starke­ Lobby für fossile Kraftstoffe. Ärgerlich, denn die Ökoenergie in Europa könnte durchaus für neue Jobs sorgen. ­Gewerkschaften beäugen die grüne Energie misstrauisch, weil sie Arbeitsplätze in angestammten Branchen bedroht. „Die Klimadebatte ist die Achillesferse der Gewerkschaften, sie vertreten keine eindeutige Position“, sagte Diskutant und ETUI-Sprecher Willy de Baecker. Neue Investitionen sollen neuen Schwung bringen. Zwei Prozent des europäischen Bruttoinlandsprodukts fordert die Industriegewerkschaft IndustriAll Europe für Investitionen in die Infrastruktur. „60 bis 70 Prozent davon sollen in die Energiewende fließen“, sagte Generalsekretär Ulrich Eckelmann.

FORUM LOHNSCHERE: Muss es weiterhin so sozial ungerecht zugehen?

Seit 1990 geht die Schere bei den Einkommen in den großen Industrienationen auseinander. Der Niedriglohnsektor wächst. „Reiche und Unternehmen müssen ihre Steuern endlich in dem Land zahlen, in dem sie Gewinne erwirtschaften“, fordert Anne Demelenne vom belgischen Gewerkschaftsbund FGTB. „Denkbar ist auch eine Abgabe der Arbeitgeber zur Schaffung von Arbeitsplätzen.“ Und: „Eine Anhebung der Mindestlöhne und weniger Steuern für Geringverdiener können ein Gegengewicht bilden“, sagt Bea Cantillon, Leiterin des Zentrums für Sozialpolitik an der Uni Antwerpen. 

FORUM ALTERNDE BELEGSCHAFTEN: Welche Arbeitsbedingungen brauchen wir? 

Deutschland verliert jedes Jahr altersbedingt 400 000 Arbeitskräfte. Um das derzeitige Produktionsniveau zu halten, müssen die Menschen länger arbeiten. Das Gesundheitsmanagement der Arbeitgeber reicht nicht aus, um Arbeitnehmer länger im Job zu halten. Nur rund 20 Prozent aller Berufe gelten als nicht gesundheitsbelastend, dazu zählen Ingenieur und Manager. Andere hingegen, meist wenig qualifizierte Tätigkeiten, machen krank. Und: Je länger die Menschen arbeiten, desto unterschiedlicher der Gesundheitszustand zwischen diesen beiden Gruppen. Hans-Martin Hasselhorn, Wissenschaftler an der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA): „Der Übergang in die Rente muss flexibler gestaltet werden.“

FORUM DIENSTLEISTUNGSSEKTOR: Ist Deregulierung unvermeidlich?

Niedrige Löhne sind der falsche Weg, um den Dienstleistungssektor anzukurbeln. Untersuchungen zeigen, dass selbst bei kürzeren Arbeitszeiten als bislang üblich mehr Nachfrage erzielt werden kann. Voraussetzung ist eine neue Aufteilung von Arbeitszeiten innerhalb von Erwerbshaushalten. Auch sei ein weniger gespreiztes Gehaltsgefüge innerhalb einer Volkswirtschaft gut für den Dienstleistungssektor. Aber: „Um Arbeitszeiten anzupassen, müssen wir Tarifabkommen stärken“, sagt Arbeitsforscher Gerhard Bosch von der Uni Duisburg-Essen. Auch deshalb klaffen Gehälter weit auseinander: „Die EU behandelt den Mindestlohn stiefmütterlich“, sagt Wiemer Salverda, Professor am Institut für Arbeitsforschung (AIAS) in Amsterdam.

Eine ausführliche multimediale Dokumentation der dreitägigen Konferenz „Europe at a crossroads“ 

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