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Magazin Mitbestimmung

Alternsgerechtes Arbeiten: Pflegebranche ohne Konzept

Ausgabe 01+02/2014

„Bis 67, das schaffen wir nicht!“ Aus kaum einer Branche kommt dieses Signal von Beschäftigten so deutlich wie aus der Pflege. Während die Arbeitsbelastungen hoch sind, wird wenig getan für einen abgefederten Rentenübergang. Von Carmen Molitor

Alte Menschen in den Rollstuhl heben, sie baden oder umbetten – das macht Martin Petzold, seit er 1976 zum Altenpfleger ausgebildet wurde. Der 57-jährige Betriebsrat und Fachpfleger für Gerontopsychiatrie hat miterlebt, wie die Arbeit in stationären Pflegeheimen körperlich und psychisch immer fordernder wurde. Nicht nur die alten Menschen, die immer kränker und oft mit einer Demenzerkrankung ins Heim kommen, auch die stressigen Arbeitsbedingungen kosten ihn heute mehr Kraft als früher. „Was vorher vier gemacht haben, machen jetzt zwei“, beschrieb er dies in der TV-Sendung „Hart aber fair“.

Seit gut zehn Jahren fordert Petzolds Körper Tribut für die Dauerbelastung im Schichtbetrieb: Knie und Rücken bereiten ihm Schmerzen. Unterstützung durch den Arbeitgeber bekam er nicht. Als er an seiner Arbeitsstelle, einem privaten Pflegeheim mit 135 Plätzen in Hannover-Laatzen, das zu einer Unternehmensgruppe mit insgesamt 40 Häusern gehört, um einen Schonarbeitsplatz bat, habe die Leitung das rundweg abgelehnt, erzählt Petzold. Wer da sei, müsse zu 100 Prozent funktionieren, beschied man ihm. Petzold fuhr mehrmals zur Kur und bekam von den Ärzten den Rat, ganz aus dem Pflegeberuf auszusteigen. „Aber das sagt sich so leicht“, sagt er grimmig. „Ich habe das eine Zeit lang versucht und nach Alternativen gesucht.“ Aber mit damals Anfang 50 und finanziellen Ansprüchen, die er als erfahrene Fachkraft, vierfacher Familienvater und Alleinverdiener hat, fand er keinen anderen Job. Und machte weiter. „Ich gehe zweimal die Woche zum Krafttraining, das bewahrt mich vor Tabletten“, erzählt der Altenpfleger. „Morgens ist es schwierig mit dem Rücken und den Knien, aber wenn ich erst mal eine halbe Stunde in Gang bin, dann merke ich nicht mehr viel.“ So muss er noch ein paar Jahre durchhalten.

DAS VERGESSENE STAMMPERSONAL Die Pflegebranche bietet ein paradoxes Bild: Der Fachkräftemangel ist groß und wird sich aufgrund des demografischen Wandels noch extrem verschärfen. ver.di geht davon aus, dass allein bis 2025 mindestens 100 000 Fachkräfte fehlen werden. Doch bei der öffentlichen Diskussion darüber fällt stets das Schlaglicht nur darauf, dass der Pflege junge Nachwuchskräfte fehlen. Dass auf der andere Seite der Altersskala ein ständiger vorzeitiger Exodus der älteren, erfahrenen Fachkräfte aus dem Job die Lage ebenfalls verschärft, bleibt im Schatten. Ganze 74 Prozent der befragten Pflegekräfte glaubten 2012 laut einer Umfrage zum DGB-Index Gute Arbeit nicht daran, dass sie bis zum geforderten Renteneintrittsalter arbeitsfähig bleiben werden. Ein Alarmsignal, auf das der Großteil der Verantwortlichen noch nicht reagiert.

Denn während Träger von Pflegeeinrichtungen große und teure Anstrengungen machen, junge Nachwuchskräfte – inzwischen sogar in Vietnam und China – zu rekrutieren, entwickeln sie bisher wenig Kreativität, um ihre erfahrenen Kräfte möglichst lange zu halten. „Es wird kaum etwas getan, um alternsgerechte Arbeitsplätze einzurichten“, beklagt Herbert Weisbrod-Frey, Leiter des Bereiches Gesundheitspolitik bei ver.di. „Da kann man wirklich die Einrichtungen an zwei Händen abzählen.“ Auch Übergangsinstrumente wie Altersteilzeit oder Lebensarbeitszeitkonten gebe es kaum; Schonarbeitsplätze, die früher für Entlastung gesorgt hätten, seien meist wegrationalisiert worden und Umbesetzungen im Team seien aufgrund der knappen Personaldecken in vielen Häusern nicht möglich. „Da gibt es nichts, woran man sich halten kann“, fasst Weisbrod-Frey zusammen. Ältere Pflegekräfte, die sich überlastet fühlen, kehren ihrer Branche deshalb oft ganz den Rücken und versuchen, anderswo so lange zu arbeiten, bis sie eine halbwegs auskömmliche Rente erwarten könnten. „Sie kündigen und gehen dann in Putzstellen oder setzen sich im Supermarkt an die Kasse, weil sie die Belastung in der Pflege nicht mehr aushalten“, beschreibt Weisbrod-Frey.

Das grundlegende Problem sei, dass der übergroße Teil der Branche keine tarifliche Absicherung hat. „Wir verhandeln hauptsächlich im öffentlichen Dienst, unter den nur sechs Prozent der Einrichtungen fallen“, sagt der ver.di-Experte. „Jedoch liegt fast die Hälfte aller Pflegeeinrichtungen in privater Trägerschaft, und dort gibt es außer ein paar einzelnen Haustarifverträgen nichts. Auch die Tarifverträge von AWO und Rotem Kreuz enthalten keine vernünftigen Altersteilzeitregelungen“, sagt Weisbrod-Frey, der diese auch in den Arbeitsvertragsrichtlinien der großen kirchlichen Träger Caritas und Diakonie vermisst.

Weil man die Arbeitgeber nicht in die Pflicht nehmen kann, müssen sich Pflegebeschäftigte oft in Eigenregie für ihren Job fit und gesund halten – solange es eben geht. Vorzeitiges Ausscheiden aus dem Berufsleben können sich die wenigsten finanziell erlauben. Selbst wenn sie es bis zum gesetzlich festgelegten Renteneinstiegsalter schaffen, erhalten Altenpflegerinnen und Altenpfleger, die laut WSI-Lohnspiegel im Schnitt 2148 Euro im Monat verdienen, oft nur eine karge Rente. Entsprechend rechnen 92 Prozent der vom DGB befragten Pflegekräfte damit, dass ihre gesetzlichen Rentenbezüge „nicht oder nur gerade so“ reichen werden. „Die meisten sind auf Aufstockungen angewiesen“, sagt Herbert Weisbrod-Frey. „Denn wer weniger als 2500 Euro verdient, wird keine Rente erhalten, mit der man leben kann. Und es gibt im privaten Pflegebereich teilweise selbst bei einer Vollzeittätigkeit Vergütungen, die 1500 Euro nicht überschreiten.“ Der weit überwiegende Teil der Beschäftigten arbeitet darüber hinaus in Teilzeit, was die Rentenerwartung noch mehr schmälert.

GEFRAGTES MODELL Andrea Grass gehört zu den wenigen Beschäftigten in der Altenpflegebranche, die in Sachen Rente und alternsgerechtes Arbeiten Glück haben. Die Heilerziehungspflegerin und Sozialwirtin arbeitet in Rheinfelden, nahe Basel, in einer Einrichtung der Behinderten- und Altenhilfe in der Sankt Josefshaus Herten Gmbh, die zum Deutschen Caritasverband gehört. „In meiner Einrichtung hat man den Warnschuss längst gehört und macht schon lange gesundheitspräventive Maßnahmen“, sagt die Vorsitzende der Mitarbeitervertretung. Als eine der ersten Einrichtungen im Caritasverband hat ihr Betrieb 2012 per Dienstvereinbarung Zeitwertkonten eingeführt. „Diese können alle Mitarbeiter beanspruchen, egal ob sie Elektriker, Pförtner oder Altenhilfekraft sind“, erklärt sie. „Aber natürlich geht es überwiegend um die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in der Pflege nicht bis 67 körperlich belastet arbeiten können.“ Ein vorzeitiges Ausscheiden in die Rente, ein Sabbatical für eine Reise oder nötige Zeit für die Pflege eines Angehörigen – all das lässt sich über das Lebensarbeitszeitkonto finanzieren, das ein externer Dienstleiter mit gestaltet hat. „Wir werben sogar jetzt damit, dass man bei uns auch mal ein halbes Jahr aussetzen kann, ohne kündigen zu müssen“, berichtet Grass.

Das Lebensarbeitszeitkonto ersetzt in ihrem Betrieb die staatlich geförderte Altersteilzeit. „Wir haben jetzt noch laufende Altersteilzeitkonten, schließen aber keine neuen mehr ab.“ Auf das alternsgerechte Arbeiten lege die Einrichtung viel Wert: Ein „Arbeitskreis Gesundheit“ hat rückenschonendes Training und Kinästhetikkurse eingeführt, die die Beschäftigten während der Arbeitszeit besuchen können; entlastende Hilfsmittel wie Lifter und Hubbadewannen wurden angeschafft. Grass ist stolz auf diese Neuerungen, aber als Mitglied der Arbeitsrechtlichen Kommission des Deutschen Caritasverbandes weiß sie auch, dass ihr Betrieb mit diesem Engagement noch nicht genügend Mitstreiter im Verband hat. Die Probleme des älter werdenden Personals seien zwar inzwischen mehr in das Bewusstsein der katholischen Dienstgeber gerückt. „Aber man muss manch einen Einrichtungsleiter erst davon überzeugen, dass er darauf auch reagieren muss“, wundert sich Grass. Sie plädiert dafür, ein Instrument wie die Lebensarbeitszeitkonten in den Einrichtungen verbindlich zu verankern. Über Betriebsvereinbarungen.

Keine betriebliche, sondern eine gesetzliche Regelung sorgt dafür, dass auch Altenpfleger Martin Petzold aus Hannover vorzeitig aus dem Beruf aussteigen kann. Er hat eine 50-prozentige Schwerbehinderung und hört deshalb in drei Jahren im Alter von 60 Jahren und zehn Monaten auf – mit hohen Abschlägen: „Auch wenn ich dann noch keine 45 Jahre gearbeitet habe, finde ich zehn Prozent Rentenabschläge nicht in Ordnung“, betont er. Petzold weiß aber auch, dass es seine Kolleginnen und Kollegen mit ihrer Rente künftig noch schwerer haben werden. Denn der private Träger zahlt den Pflegefachkräften monatlich zwischen 500 und 600 Euro weniger Lohn als die Kommune, von der er das Heim vor einigen Jahren kaufte. „Das muss man erst mal wegstecken“, sagt Martin Petzold. Er ist froh, dass er die meiste Zeit seines Berufslebens für den Landkreis Hannover gearbeitet hat, teilweise auch in der Heimleitung. „Damals wurde ich nach Tarif bezahlt und habe gut verdient, das schlägt sich rentenmäßig jetzt nieder.“ Seit 2011 erhält zwar auch er die geringeren Bezüge des neuen Heimbetreibers, „aber das kriege ich hin“, hofft Petzold. 

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