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Magazin Mitbestimmung

Interview: „Diese Arbeitslosenquoten führen in die Katastrophe!“

Ausgabe 04/2013

Bernadette Ségol, die Generalsekretärin des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB), über kurzsichtige Finanzpolitiker, solidarische Gewerkschaften und ihren Kampf für eine EU, die mehr ist als eine Freihandelszone. Das Gespräch führten Eric Bonse und Margarete Hasel

Vor zwei Jahren sind Sie auf dem Kongress in Athen zur EGB-Generalsekretärin gewählt worden. Man kann sich weniger turbulente Zeiten vorstellen, ein solch verantwortungsvolles Amt zu übernehmen. Wie waren Ihre ersten Erfahrungen in Brüssel?
Wegen der Wirtschafts- und Sozialkrise waren diese ersten beiden Jahre heftig und sehr intensiv. In einer ganzen Reihe von Staaten gibt es soziale Spannungen – das sind keine einfachen Zeiten für die Gewerkschaften. Wir sind mit der Frage konfrontiert, ob und wie wir die Politik der Euroländer ändern können, dass die Beschäftigung wieder im Zentrum der Wirtschaftspolitik steht. An dieser wichtigen Aufgabe mitwirken zu können empfinde ich als großes Privileg.
 
Vor 40 Jahren ist der EGB angetreten, das europäische Sozialmodell mitzuentwickeln. Was ist daraus geworden?
Heute gibt es ein stärkeres Bewusstsein von der Notwendigkeit, eine kräftige Stimme auf europäischer Ebene zu haben. Der EGB ist heute unangefochten. Die Mitgliedsgewerkschaften haben erkannt, dass sie nicht mehr nur auf der nationalen Ebene handeln können, um ihre Errungenschaften zu verteidigen. Das war in den 70er und 80er Jahren nicht selbstverständlich und hat viel mit der politischen Genese der EU selbst zu tun, mit dem Euro und dem ökonomischen Zusammenwachsen. Leider hat die Aufmerksamkeit für die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen damit nicht Schritt gehalten. Als Jacques Delors in den 90er Jahren Präsident der EU-Kommission war, gab es mehr Bewegung in sozialen Fragen. Dass dies verloren gegangen ist, ist sehr bedauerlich.

In der Krise scheinen die Regierungen wenig geneigt, eine belastbare soziale Politik zu formulieren. Die soziale Dimension wird auf dem Altar der Austerität geopfert. Was setzt der EGB dagegen?
Wir haben wichtige Gesetze und Sozialpartnervereinbarungen erreicht – zu Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, zur Gleichstellung der Frau, zur Elternzeit oder zur Zeitarbeit. Nicht zu vergessen die Informations- und Konsultationsrichtlinie und die Eurobetriebsräte. Diese europäische Gesetzgebung brachte für einige Länder enorme soziale Fortschritte. Sie stehen heute auf dem Spiel, sie sind bedroht von einer ideologisch geprägten Wirtschafts- und Finanzpolitik, die die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte predigt und die Senkung der Reallöhne fordert. Angeblich soll damit die Wettbewerbsfähigkeit erhöht werden, doch allzu oft bedeutet es nur Sozialabbau. Die EU-Kommission ergreift keine sozialpolitischen Initiativen mehr, sondern kümmert sich um „smart regulation“, was nichts anderes als Deregulierung bedeutet. Sozialpolitik wird als Bürde empfunden, dabei ist die EU weit mehr als nur eine Freihandelszone. Der EGB hat deshalb 2012 einen Sozialpakt vorgeschlagen, und einige Politiker begreifen durchaus, dass wir uns selbst ins Knie schießen, wenn wir die soziale Dimension vernachlässigen.

Nun hat Deutschland auf EU-Ebene eine neue Initiative zur Wettbewerbsfähigkeit gestartet. Fürchten Sie, dass damit die deutsche Agendapolitik auf ganz Europa ausgeweitet wird – mit den bekannten Folgen?
Das werden wir wohl erst im Juni sehen, denn dann sollen beim EU-Gipfel die Entscheidungen fallen. Klar ist aber schon jetzt, dass Deutschland eine entscheidende Rolle spielt. Ich hoffe, dass man auch in Berlin erkennt, dass die aktuelle Politik nicht funktioniert. Es stimmt zwar: Die Staatsschulden sind ein Problem, eine Verschuldung von 120 Prozent ist langfristig nicht tragbar. Doch die bisher getroffenen Entscheidungen geben keine Impulse für Wachstum und Beschäftigung. Dabei wären die Menschen durchaus bereit, Opfer zu bringen, wenn deren Sinn erkennbar ist und sie Licht am Ende des Tunnels sehen.

Die Bundesregierung spricht von Erfolgen der Sparpolitik.
Stimmt, Spanien exportiert wieder mehr. Doch gleichzeitig sind die Importe eingebrochen, nur deshalb sieht die Bilanz besser aus. Die Kehrseite der Medaille ist, dass die Zahl der Arbeitslosen explodiert. Meine Aufgabe ist es, so laut wie möglich herauszurufen: Diese Arbeitslosenquoten führen in die Katastrophe!

Die Kluft zwischen den Ländern, die relativ gut durch die Krise kommen, und denen, die immer tiefer hineingeraten, wird größer. Gibt es in der europäischen Gewerkschaftsbewegung Anzeichen einer Renationalisierung?
Nein, im EGB kann ich das nicht erkennen. Wir haben auch keine Spaltung in Nord und Süd oder in Ost und West, der Sozialpakt 2012 wurde in der EGB-Exekutive einstimmig beschlossen. Es gibt in dieser Krise keine Inseln der Glückseligen, selbst Deutschland ist auf Exporte in die Krisenländer angewiesen. Wir sitzen alle im selben Boot.

Auf dem Kongress zum EGB-Jubiläum Ende Januar in Madrid haben Sie die Vermutung geäußert, dass es für die Gewerkschaften leichter ist, mit einer Stimme zu sprechen, als für die Regierungen. Was macht Sie da so sicher?
Es steht zu viel auf dem Spiel, das alle betrifft. Wenn Arbeitnehmerrechte in einem Land beschnitten werden, dann schwächt das nicht nur die Gewerkschaften in diesem Land, sondern überall. Wir sind uns nicht immer in allen politischen Details einig, aber die Linie stimmt.

Nehmen wir die deutschen Gewerkschaften: Ihnen wird vorgeworfen, durch ihre zurückhaltende Lohnpolitik die Binnenkaufkraft geschwächt zu haben, was zu negativen Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung anderer Mitgliedstaaten geführt habe. Teilen Sie diese Kritik?
Die deutschen Gewerkschaften waren Opfer der Hartz-Gesetze, sie waren keine treibenden Kräfte. Keine Gewerkschaft dieser Welt käme auf die Idee, absichtsvoll schlechtere Tarife zu vereinbaren, wenn bessere durchsetzbar sind. Jetzt bemühen sich die deutschen Gewerkschaften um substanzielle Lohnerhöhungen. Die Zeit des Gürtel-enger-Schnallens ist vorbei. Dabei wollen wir sie unterstützen.

In Deutschland wird die Forderung nach Einführung eines Mindestlohns immer lauter. Was kann der EGB dafür tun?
Lohnfindung ist und bleibt eine nationale Angelegenheit. In unserem Sozialpakt fordern wir einen fairen Mindestlohn, der die Lohnuntergrenzen respektiert, die der Europarat bei 60 Prozent des jeweiligen nationalen Durchschnittslohns festgelegt hat. Wenn dies über Tarifverhandlungen erreicht wird, wie in Nordeuropa, so ist dagegen nichts einzuwenden. In Deutschland bereitet das aber in manchen Sektoren Probleme. Ein gesetzlicher Mindestlohn ist daher geboten.

Die EU-Kommission plant direkte Eingriffe in die Tarifautonomie, um – wie es heißt – die Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedsländer zu verbessern. Der Dachverband industriAll wehrt sich dagegen. Was sagt der EGB?
Löhne sind kein Thema für die EU, da haben die Kollegen von industriAll völlig recht. Aber ich gebe zugleich zu bedenken, dass wir eine Form von gemeinsamer Wirtschaftspolitik für die Eurozone brauchen. Und wir müssen uns der Tatsache stellen, dass die Finanzminister bereits jetzt über Lohnstückkosten und Produktivität diskutieren. Die Troika hat den griechischen Mindestlohn um 25 Prozent gekürzt. Da sollten wir uns schon Gedanken darüber machen, wie wir deutlich vernehmbar unsere Stimme erheben, dass wir das nicht akzeptieren. Ein Forum dafür wäre der sogenannte makroökonomische Dialog, zu dem die Sozialpartner zweimal jährlich mit den Spitzen von Kommission, Rat und EZB zusammenkommen. Kann es uns gelingen, aus diesem Gremium ein einflussreiches Instrument zu machen, um unsere Anliegen voranzubringen? Derzeit sieht es leider nicht danach aus. Die Arbeitgeber sind dazu nicht bereit, und die politischen Mehrheiten in den meisten europäischen Ländern unterstützen uns nicht.

Wäre ein breites Bündnis mit NGOs und Kräften der Zivilgesellschaft eine Möglichkeit, die Stimme lauter zu erheben? Möglicherweise könnte dies auch den Trend zu sinkenden Mitgliederzahlen brechen.
Die Gewerkschaften sind seit 30 Jahren mit neoliberaler Politik und dramatischen Veränderungen im Arbeitsmarkt konfrontiert. Dies blieb nicht ohne Folgen für die Mitgliedschaft. Was die NGOs betrifft, so arbeitet der EGB bereits mit einigen zusammen, vor allem in ökologischen und sozialpolitischen Fragen, auch bei der Steuerpolitik. Korruption könnte ein weiteres wichtiges Thema werden. Wir sollten uns aber nicht kleiner machen, als wir sind. Die Gewerkschaften spielen eine wichtige Rolle in der demokratischen Gesellschaft. Anders als die meisten NGOs haben wir zahlende Mitglieder und feste Strukturen. Wir sind in den EU-Verträgen als Sozialpartner und Teil des institutionellen Gefüges anerkannt, das dürfen wir nicht aufgeben.

Lange Zeit war die Mitbestimmung deutschen Zuschnitts unter den Gewerkschaften in Europa umstritten, nun will die französische Regierung eine Mitbestimmungskomponente gesetzlich verankern. Wird Mitbestimmung eine Referenzgröße für die industriellen Beziehungen der Zukunft in Europa sein?
Die Mitbestimmung war gar nicht so kontrovers, wie man oft denkt. Selbst in Frankreich wurde sie respektiert, wenn auch nicht aktiv nachgeahmt. Das liegt an den unterschiedlichen Traditionen. Den französischen Sinneswandel finde ich positiv, auch wenn noch nicht ganz klar ist, wie das Gesetz aussehen wird. Diese Entwicklung hat nicht zuletzt mit der Europäischen Aktiengesellschaft und dem SE-Statut zu tun. Da sammeln jetzt auch einige französische Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsräten wertvolle Erfahrungen mit der Mitbestimmung. Sie bleibt also wichtig – auch wenn Frankreich, Italien oder Spanien sie nicht gleich morgen eins zu eins übernehmen.

Zur Person

Bernadette Ségol wurde im Mai 2011 auf dem 12. Kongress des Europäischen Gewerkschaftsbundes in Athen zur Generalsekretärin gewählt. Die 64-jährige Französin hat in Toulouse Philosophie studiert, einen Namen machte sie sich in Brüssel und Genf, wo sie für internationale Gewerkschaften arbeitete. Textil, Handel, Dienstleistungen markieren wichtige Karrierestationen – zuletzt war sie Generalsekretärin von UNI Europa, dem europäischen Zusammenschluss der Dienstleistungs- und Kommunikationsgewerkschaften. Neben dem aktuellen Kampf gegen die Austeritätspolitik zählt sie den erfolgreichen Widerstand gegen den ursprünglichen Entwurf der EU-Dienstleistungsrichtlinie zu ihren wichtigsten Erfahrungen.

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