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Magazin Mitbestimmung

Interview: „Eine Reaktion auf wirtschaftliche und soziale Krisen“

Ausgabe 01+02/2013

Die Historikerin Anne Sudrow über die Ursprünge kollektiven Wirtschaftens, den Zusammenbruch der deutschen Gemeinwirtschaft und die Zukunft alternativer Ökonomien. Das Gespräch führten Kay Meiners und Ingo Zander

Frau Sudrow, Sie erforschen zusammen mit mehreren Doktoranden die Geschichte des kollektiven Wirtschaftens in Westeuropa. Können Sie den Begriff definieren?
Es geht um zweierlei: um den gemeinsamen Besitz der Produktionsmittel durch die Beschäftigten und um ihre demokratische Kontrolle. Wenn ich einen ungefähren Anfangspunkt nennen darf: Im Jahr 1830 gründeten die Rochdale Pioneers, eine Gruppe englischer Weber, eine Kooperative und einen selbstverwalteten Laden. Er verkaufte günstig Basisprodukte wie Nahrungsmittel, Kerzen oder Tabak. Die Mitglieder brachten das Kapital dafür gemeinsam auf und entschieden demokratisch über dessen Verwendung. Nach diesem Prinzip bildeten sich neben Konsumgenossenschaften auch Produktivgenossenschaften. Das nennen Genossenschaftler Mutualität, Selbsthilfe auf Gegenseitigkeit.

Auch in Deutschland entstand ein Geflecht genossenschaftlicher und gewerkschaftlicher Unternehmen, die Gemeinwirtschaft.
Diesen Begriff darf man nicht mit dem kollektiven Wirtschaften gleichsetzen – er ist weiter und enger zugleich. Er verweist auf ein spezifisch deutsches, stark gewerkschaftlich geprägtes Konzept, das auf Erfahrungen des Ersten Weltkrieges und der Räterepublik aufbaute. Das Ziel war, den öffentlichen Sektor und die Genossenschaften zu stärken. So wollte man die Grundversorgung sichern und eine Wirtschaftsdemokratie etablieren, die das kapitalistische System allmählich ersetzen sollte. Es war ein Versuch, die zutiefst gespaltene Gesellschaft der Weimarer Republik zu befrieden.

Viele dieser Unternehmen waren hoch innovativ, sie wollten der Motor der wirtschaftlichen Entwicklung sein. Was war von diesem Geist nach der Zerschlagung der Gemeinwirtschaft durch das NS-Regime und dem Krieg noch übrig?
Es fehlte nicht an Versuchen, an die erfolgreiche Zeit vor 1933 anzuknüpfen. Der erste Selbstbedienungsladen in Deutschland war 1949 die Filiale einer Konsumgenossenschaft, der „Hamburger Produktion“. Doch in den 1950er Jahren wandelte sich das Verständnis von Gemeinwirtschaft. Das monistische Konzept der 1920er Jahre, in dem noch über die Verstaatlichung ganzer Wirtschaftszweige nachgedacht wurde, wich einer dualistischen Konzeption: Jetzt sollte die Gemeinwirtschaft in Koexistenz mit der Marktwirtschaft dazu dienen, die Gemeinwohlorientierung der Gesamtwirtschaft zu fördern.

Wurden die Konsumgenossenschaften überflüssig, als nach dem Wirtschaftswunder die Grundversorgung gewährleistet war?

Das Geschäft wurde schwieriger. Mit dem Wertewandel der 1970er Jahre differenzierten sich die Konsum-Milieus immer weiter aus. Es reichte nicht mehr, Standardprodukte anzubieten, die sich durch ihre Preiswürdigkeit auszeichneten. Zugleich entstanden neue Supermärkte und Discounter. Doch die Gewerkschaften sahen in der Gemeinwirtschaft immer weniger ein politisches Instrument. Der Kampf um Mitbestimmungsrechte in der konventionellen Wirtschaft ersetzte allmählich die Idee, den Genossenschaftssektor auszubauen.

In den 1980er Jahren brach die Gemeinwirtschaft zusammen. Hatte sich das Modell überlebt?
Man kann dies weniger der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung anlasten als vielmehr inneren Ursachen. Ich stütze mich dabei auf Arbeiten meines Kollegen Peter Kramper, der über die Neue Heimat geforscht hat. In der NS-Zeit wurde die Gemeinwirtschaft enteignet und umorganisiert. Die Deutsche Arbeitsfront (DAF) schloss sie zu großen Einheiten zusammen, um neben anderen NS-Organisationen möglichst mächtig dazustehen. Die Gigantomanie der neuen Riesenkonzerne haben die Gewerkschaften nach 1945 nicht durchbrochen.

Die Gewerkschafen erbten Strukturen, die anachronistisch waren?

Sie führten die restituierten Unternehmen so groß, wie sie waren, weiter, um die gewerkschaftliche Macht im Wirtschaftssystem zu sichern. Die Neue Heimat war ein Riesendampfer, der mit einer basisdemokratischen Kontrolle gar nicht mehr zu steuern war. So geschah es, dass sich das Management zunehmend von der Basis und dem politischen Auftrag der Daseinsvorsorge für ärmere Bevölkerungsschichten entfernte. Es setzte ein moralischer Verfall ein bis zur Selbstbereicherung des Managements.

Hätte es nicht eine Chance der Erneuerung gegeben? Als die Gemeinwirtschaft kollabierte, wuchsen bereits neue Pflanzen kollektiven Wirtschaftens.
Durch das alternative Milieu, jugendliche Subkulturen und die neuen sozialen Bewegungen nach 1968 kam es zwischen 1970 und 1985 in ganz Westeuropa zu einem regelrechten Boom des kollektiven Wirtschaftens. In den 1970er und 1980er Jahren sind allein in Westdeutschland rund 14 000 Kollektivprojekte gründet worden.

Wer waren die neuen Gründer?
Protagonisten waren die kritische Lehrlingsbewegung, Beschäftigungslose oder Arbeitende, die mit den Machtstrukturen in ihren Betrieben unzufrieden waren, Akteure aus der Ökologiebewegung und der Frauenbewegung. Während bis dahin in der Bundesrepublik die Konsum- und Wohnungsgenossenschaften überwogen, wurden jetzt auch Produktivgenossenschaften gegründet: Bäckereien, Verlage und Buchhandlungen, Schreinereien und Kinderläden, Bioläden, Hebammen- und Hurenkollektive. Diese Initiativen lehnten den Begriff der Gemeinwirtschaft ab. Sie sprachen lieber von Selbstverwaltung. Manche gründeten lieber eine GmbH, um sich der Kontrolle der Genossenschaftsverbände zu entziehen.

Was wollte diese neue Generation anders machen?
Sie wollte neue Formen des Lebens und Arbeitens ausprobieren. Hierarchien wurden infrage gestellt, ebenso die Zuweisung von Frauenarbeit in die Reproduktionssphäre und Männerarbeit in die Produktionssphäre. Auch die Frage, was zur Arbeits- und was zur Konsumsphäre gehört, wurde neu verhandelt. Die Idee, man könne den Kapitalismus abschaffen, gedieh in diesem Milieu weiter. Nicht im Sinne einer politischen Revolution, sondern einer kulturellen – durch eine alternative Praxis.

Aber die Gewerkschaften stiegen nicht ein.
Viele Gründer machten die Erfahrung, dass die Gewerkschaften Kooperativprojekte nicht unterstützten. Die gewerkschaftliche Bank für Gemeinwirtschaft hat Kollektivbetrieben in der Regel kein Kapital gegeben, weil angeblich die Gewinnaussichten zu schlecht waren. Auch in den wenigen Fällen, in denen Mitarbeiter in der alten Bundesrepublik einen Betrieb in Selbstverwaltung übernehmen wollten, waren die Gewerkschaften oft dagegen, obwohl sich lokale Gewerkschaftsgruppen dafür einsetzten.

Wie erklären Sie sich diese Haltung?

Arbeitnehmer zu Unternehmern zu machen war für die Gewerkschaften keine Option. Sie argumentierten, für die Arbeitnehmer bedeute dies zusätzlich zum Arbeitsplatzrisiko noch ein finanzielles Risiko. Einerseits ist das verständlich – doch es wundert auch, dass die Gewerkschaften nicht offener waren für andere Formen der Mitbestimmung.

Mit dem Ergbnis, dass es praktisch keine selbstverwalteten Produktionsbetriebe gibt.
Westdeutschland war, was die Zahlen von selbstverwalteten Produktionsbetrieben angeht, bislang absolutes Schlusslicht in Europa, während in Spanien und Italien die Zahl der Produktivgenossenschaften – auch wegen günstigerer Gründungsbedingungen durch den Staat – in die Hunderte ging. Spanien ist der Spitzenreiter – in der Landwirtschaft, aber auch in der Industrie. Die baskische Kooperative Mondragon ist die größte Genossenschaftsgruppe Westeuropas. Ihr gehören mittlerweile sogar Fabriken in China. Das ist im Grunde ein vertikal intergrierter Konzern.

Dennoch wurde auch in Deutschland mit selbstverwalteter Produktion experimentiert?
Ja. 1970 wurde die Glashütte Süßmuth im nordhessischen Immenhausen, die hochwertige Tafelgläser produzierte, der erste selbstverwaltete Produktionsbetrieb in Westdeutschland. Der Betrieb gehörte Richard Süßmuth, einem Glasdesigner und Unternehmer, der aus Schlesien stammte. Er hatte ihn nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut und von der Förderung der Zonenrandgebiete profitiert.

Wie kam es zur Sozialisierung?
Als der Betrieb Ende der 1960er Jahre vor dem Aus stand und keinen Nachfolger hatte, ließ Süßmuth sich dazu bewegen, den Arbeitern den Betrieb zu übergeben. Als CDU-Mitglied musste er sich damals vor seinen Parteifreunden rechtfertigen. Sie warfen ihm vor, sozialistische Methoden einzuführen. Er schwankte wieder und musste veranlasst werden, seine Zusage einzuhalten. Die damalige SPD-Regierung war nur zu Finanzhilfen bereit, wenn der Betrieb in die Hände der hoch qualifizierten Arbeiter gelegt wurde.

Ging das ökonomisch gut?
Die Belegschaft war hoch motiviert und baute in der Freizeit einen neuen Glasofen. Der modernisierte Betrieb kam wieder in die Gewinnzone. Schwierigkeiten bereitete die Rechtsform. Die Arbeiter wollten keine Genossenschaft – also gründeten sie eine GmbH, einen Verein und später eine Stiftung, um das Problem halbwegs zu lösen. Juristisch war das gewagt. Später wurde die Selbstverwaltung wieder aufgegeben. Die Glashütte wurde wieder ein mehr oder weniger normaler Betrieb – doch sie überlebte bis 1989. Dann übernahmen Hamburger Kaufleute die Produktionsstätte und stellten den Betrieb 1996 ein.

Versuche wie bei Süßmuth gab es auch in Großbritannien unter dem Labour-Politiker Tony Benn, der Mitte der 1970er Jahre Industrieminister war.
Benn förderte mit Millionensummen, wie sie übrigens damals auch zur Rettung konventioneller Großbetriebe ausgegeben wurden, drei Versuche, Unternehmen durch Arbeiterselbstverwaltung zu retten: neben der Zeitung „Scottish Daily News“ auch zwei Großbetriebe mit jeweils knapp 2000 Mitarbeitern: Kirby Manufacturing and Engineering, einen Maschinenbauer, und Triumph Meriden, den Produzenten der Triumph-Motorräder.

Aus betriebswirtschaftlicher Sicht waren diese „Benn Cooperatives“ ein ziemliches Deasaster.

Im Forschungsprojekt entwickeln wir gerade einen Kriterienkatalog für den historischen Erfolg oder Misserfolg kollektiver Projekte. Um die historische Bedeutung von solchen gesellschaftlichen Experimenten mit völlig neuen Mustern und Werten des Wirtschaftens angemessen zu erfassen, darf man nicht nur rein wirtschaftliche Kriterien einbeziehen. Wenn es gelingt, Arbeitsplätze noch für zahlreiche Jahre zu sichern, ist dies sicher ein Erfolg. Andererseits ist ein Projekt nicht deshalb erfolgreich im Sinne der Gründer, wenn es überlebt hat, aber die Gründungsideale verloren gegangen sind.

Man muss auch sozial- und kulturhistorische Kriterien anlegen?
Ja, sie müssen eine ebenso große Rolle spielen. Es gibt eine Studie über Fakenham Enterprises, einen Zulieferer der Schuhindustrie in Norfolk, dessen rein weibliche Belegschaft 1972 den Betrieb in Selbstverwaltung übernahm. Die Verantwortung, die die Frauen im Betrieb übernahmen, führte dazu, dass sie auch zu Hause andere Rechte einforderten. Die Arbeit hat das Privatleben und die Rollenbilder verändert. So etwas gehört in die historische Bilanz.

Welche Rahmenbedingungen begünstigen den Erfolg kollektiven Wirtschaftens?
Die zwei Ziele kollektiver Unternehmen – die wirtschaftliche Selbsthilfe und die politisch-soziale Zielsetzung – müssen gleich ernst genommen werden, wenn das kollektive Wirtschaften Erfolg haben soll. Von Dauer waren oft solche Kollektivbetriebe, in denen sich die Mitglieder über die politischen Ziele einig waren und diese geteilten Werte als Motivation dienen konnten, trotz der vielen Widrigkeiten der wirtschaftlichen Praxis weiter tätig zu bleiben. Die Forschung zeigt außerdem, dass das Unterstützungsnetz eine wichtige Rolle für den Erfolg spielt. In den 1970er und 1980er Jahren haben sich in Norditalien, im Großraum London oder auch in West-Berlin solche Netzwerke entwickelt. Das geht bis zur Kapitalbeschaffung. Kollektive Betriebe sind chronisch unterkapitalisiert. Man braucht verbündete Banken oder alternative Methoden, an Kapital zu gelangen. Hier entwickelten Kollektivbetriebe einen großen Einfallsreichtum.
 
Ein einzelnes Kollektiv hat es also schwer, wenn die Wirtschaft nach anderen Spielregeln funktioniert?
Das muss nicht in jedem Fall so sein. Doch früher waren kollektive Betriebe auch massiven politischen Anfeindungen ausgesetzt. Das ist sicher besser geworden. Denken wir nur an die Schlecker-Frauen, die einige Filialen weiterführen wollen und dabei von der Gewerkschaft ver.di unterstützt werden. Aber spätestens wenn man sozialer oder fairer wirtschaften will als andere, arbeitet man unter verzerrten Wettbewerbsbedingungen.

Jetzt in der Krise mehren sich die Stimmen, die Alternativen zum Shareholder-Kapitalismus zu entwickeln. Glauben Sie, kollektives Wirtschaften kann einen Beitrag leisten?

Die historische Erfahrung ist eindeutig: Ideen des kollektiven Wirtschaftens waren immer eine Reaktion auf wirtschaftliche und soziale Krisen. Deswegen haben solche Ideen jetzt Hochkonjunktur. Wir beobachten ja eine zunehmende öffentliche Kritik an der „Moral“ und den Prinzipien unternehmerischen Handelns. Daher werden die Motive wirtschaftlichen Handelns wieder stärker diskutiert.

Muss es immer Basisdemokratie sein?

In historischer Perspektive gesehen erscheint demokratisch organisiertes Handeln als manchmal mühsam, aber nachhaltig. Deutschland hat mit der klassischen Mitbestimmung einen anderen Weg als die Basisdemokratie eingeschlagen. Letztlich hat sich aber gezeigt: Überall, wo es zu einer demokratisch legitimierten Kontrolle kommt, ist die Chance am größten, dass auch über die politischen und sozialen Ziele wirtschaftlichen Handelns reflektiert wird. Dort, wo Gemeingüter existieren oder entstehen, ist der beste Weg der Bewirtschaftung weder private Aneignung noch Verstaatlichung. Dort ist es nötig, denen, die das Gemeingut nutzen, die demokratische Kontrolle zu ermöglichen.

Zur Person

Anne Sudrow leitet den Forschungsschwerpunkt „Sozial- und Kulturgeschichte des kollektiven Wirtschaftens in Westeuropa nach 1945“ am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam und betreut dort mehrere Promovenden. Ihre eigene Dissertation „Der Schuh im Nationalsozialismus“, in der sie die Produktionsketten inklusive Zwangsarbeit untersuchte, wurde 2010 mit dem renommierten Hedwig-Hintze-Preis des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands ausgezeichnet. 

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