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HBS Böckler Impuls

Sozialpolitik: Bedarfsgemeinschaft unzeitgemäß

Ausgabe 19/2012

Das deutsche Sozialmodell entwickelt sich widersprüchlich: Zwar sollen nun Männer und Frauen erwerbstätig sein. Die sozialrechtliche Konstruktion der Bedarfsgemeinschaft geht jedoch weiterhin von einem traditionellen Familienbild aus - zum Leidwesen der meisten Paare.

Die Familienpolitik in Deutschland steuere vorsichtig auf ein neues Leitbild zu, analysieren Jutta Allmendinger, Dörthe Gatermann und Wolfgang Ludwig-Mayerhofer in einer aktuellen Studie für die Hans-Böckler-Stiftung. Angestrebt sei eine gleichberechtigte Beteiligung der Geschlechter an der Erwerbsarbeit, kurz: „Jeder hat eigenes Geld“. Ganz anders sehe es jedoch im Fall längerer Arbeitslosigkeit aus: Hier habe die Hartz-IV-Reform mit den verschärften Anrechnungsvorschriften für Partnereinkommen, dem „Rückgriff auf familiale Verpflichtungszusammenhänge“, genau in die Gegenrichtung gewirkt. Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB), der Soziologie-Professor von der Universität Siegen und WZB-Forscherin Gatermann haben empirisch ermittelt, wie Paare zu den aktuellen Regeln des Sozialrechts stehen – und inwieweit sie gemeinsam oder getrennt wirtschaften. Dazu haben die Wissenschaftler über 1.000 Paare befragt, sozialversicherungspflichtig Beschäftigte wie Arbeitslose.

Drei Viertel wünschen sich einen starken Sozialstaat. Neun von zehn Befragten rechnen damit, dass die Einkommensunterschiede in der Gesellschaft in Zukunft zunehmen und gleichzeitig die Eigenvorsorge für Alter und Krankheit wichtiger wird. Die Erwartung, der Staat werde ihren Lebensstandard sichern oder im Alter und bei Krankheit für die Menschen sorgen, teilten weniger als 40 beziehungsweise 30 Prozent. Diesen pessimistischen Prognosen zum Trotz spricht sich die große Mehrheit für einen starken Wohlfahrtsstaat aus: Umverteilung der Einkommen, angemessener Lebensstandard für Arbeitslose, ein garantiertes Mindesteinkommen und Wohnraum für jeden, Gesundheitsversorgung, angemessener Lebensstandard im Alter, ein Arbeitsplatz für jeden, der arbeiten will – alle diese Forderungen sollte der Staat nach Auffassung von wenigstens drei Vierteln der Befragten erfüllen.

Mehrheitlich abgelehnt: Anrechnung von Partnereinkommen auf Hartz-IV-Leistungen. Anhand von Beispielfällen sollten die Befragten die Regelungen bewerten, nach denen Jobcenter Grundsicherungsleistungen mit dem Hinweis verweigern können, der Partner des Langzeitarbeitslosen verdiene genug, um beide zu versorgen. Rund 75 Prozent stimmten der Aussage zu, der Staat solle gar nicht verlangen, dass jemand mit einem mittleren Einkommen den arbeitslosen Partner versorgen muss. Lediglich im Falle hoher Einkommen und bei Verheirateten stieß die sozialrechtliche Praxis auf eine gewisse Zustimmung. Gegen eine Anrechnung von Ersparnissen auf Hartz-Leistungen des Partners waren mehr als 80 Prozent.

Darüber hinaus haben die Wissenschaftler die Paare nach ihren Vorstellungen von einer guten Beziehung gefragt und die Antworten mit den Einstellungen zur Anrechnung von Partnereinkommen abgeglichen. Dabei zeigten sich aber keine großen Unterschiede: Diejenigen, die meinen, es gehöre zu einer guten Beziehung, finanziell füreinander zu sorgen, lehnen die Verpflichtung, anstelle des Staates für den arbeitslosen Partner einzuspringen, ungefähr genauso häufig ab wie Befragte mit anderen Beziehungsvorstellungen. „Die vom Gesetzgeber unterstellte Versorgungsgemeinschaft entspricht überwiegend nicht der Sicht der Paare“, so die Autoren. Sie stünden „einer staatlich verordneten Verpflichtungsstruktur sehr kritisch gegenüber“. Zwar seien die meisten Paare bereit, sich bei finanziellen Engpässen gegenseitig zu helfen. Die Absicherung gegen Arbeitslosigkeit wollen sie jedoch nicht der Partnerschaft aufbürden. Der Staat sollte nach Meinung der Befragten die „wechselseitige Unterstützungsbereitschaft nicht über Gebühr beanspruchen“.

Weitere Befragungsergebnisse zeigten, dass „die Unterstellung einer generellen gemeinschaftlichen Geldverwaltung nicht gerechtfertigt“ sei. Denn lediglich 38 Prozent aller Paare legen der Untersuchung zufolge alles Geld zusammen. Das betrifft vor allem Paare, die schon lange, oft zwanzig Jahre und mehr, zusammenleben, verheiratet sind und Kinder haben. Besonders jüngere Paare neigen hingegen zu getrennten Kassen. Insgesamt 22 Prozent wirtschaften vollkommen getrennt; die übrigen praktizieren Mischformen und zahlen beispielsweise Teile ihrer Einkommen in eine gemeinsame Haushaltskasse.

  • Eigenes Geld ist heute in Partnerschaften selbstverständlich. Zur Grafik

Jutta Allmendinger, Dörthe Gatermann, Wolfgang Ludwig-Mayerhofer: Abschlussbericht zum Forschungsprojekt Sozialstaatliche Transformationen: Auswirkungen auf familiale Verpflichtungszusammenhänge und die Wahrnehmung sozialer Ungleichheit, November 2012

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