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Magazin Mitbestimmung

Praxis: „Bis 67 schaffen wir’s nicht“

Ausgabe 10/2012

Seit dem Aus für die staatlich geförderte Altersteilzeit setzen die Gewerkschaften auf tarifliche und betriebliche Lösungen, um einen flexibleren Übergang in die Rente zu ermöglichen. Doch für die meisten Beschäftigten gibt es noch keine Angebote. Von Karin Flothmann

„Irgendwann ist es auch mal gut. Dann hat man genug gearbeitet.“ Gudrun Beke lehnt sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück und atmet tief durch. Sie ist jetzt 58 Jahre alt. Mit 15 hat sie bei der Salzgitter AG angefangen – erst als Lehrling, später in der Druckerei. Seit 1996 leitet sie eine Gruppe im technischen Sozialbetrieb; ihre Leute sind für die Instandhaltung der Belegschaftseinrichtungen zuständig. Und sie kümmert sich nebenbei um Veranstaltungen. Sie baut das Infozelt zu den Musiktagen im Gymnasium auf oder organisiert das Fußballturnier im Werk. „In den letzten zwei Jahren wurde ich gesundheitlich schwer gebeutelt“, erzählt Beke. Jetzt ist sie schwerbehindert und möchte in Altersteilzeit gehen. Auch Rudi Zalmezs denkt über den Ausstieg nach. Der 60-Jährige arbeitet als Betriebsassistent im Elektrobetrieb des Warmwalzwerks 3. Im Jahr 1968 hat er hier gelernt, den größten Teil seines Arbeitslebens hat er im Walzwerk verbracht, einem lauten, heißen und nassen Ort. Bis letztes Jahr hatte er eine Woche pro Monat Rufbereitschaft. Da musste er auch nachts ran, wenn mit der Elektrik was nicht stimmte. Das geht auf die Knochen. Die ersten Wehwehchen setzen ein. „Am liebsten würde ich noch zweieinhalb Jahre in Altersteilzeit arbeiten und dann gehen“, sagt er. Er wünscht sich mehr Zeit fürs Private: „Ich habe eine Enkelin, die immer fragt: Opa, was machen wir morgen zusammen?“

EINE NEUE FINANZIERUNG

Doch die goldenen Zeiten für die Altersteilzeit sind vorbei. Seit Ende 2009 ist die Möglichkeit, sie durch die Bundesagentur fördern zu lassen, verstellt. Entsprechende Vereinbarungen der Tarifpartner liefen meist zeitgleich aus. Bei der Salzgitter AG befinden sich noch knapp 100 Beschäftigte in der alten, staatlich geförderten Altersteilzeit, wie sie bis Ende 2009 beantragt werden konnte. Doch Beke und Zalmezs werden unter anderen Umständen in Rente gehen. Die Finanzierung ihrer Altersteilzeit hat sich radikal geändert. Dazu wurde ein Demografiefonds eingerichtet.

Hasan Cakir, der Betriebsratsvorsitzende der Salzgitter Flachstahl GmbH, erklärt, wie er funktioniert: „Es gibt für die Mitarbeiter eine Erfolgsbeteiligung am Gewinn.“ In den Jahren 2007 und 2008 floss ein Teil dieser Mittel in den Fonds. „Am Ende machte das 22 Millionen Euro für die ganze Salzgitter AG – und sechs Millionen für Salzgitter Flachstahl“, sagt Cakir. Rund 200 Mitarbeiter interessieren sich für die Altersteilzeit – weit mehr als die tariflich vorgesehenen vier Prozent, deren Altersteilzeit von der Arbeitgeberseite finanziert wird. Sind die erreicht, dann will man in Salzgitter auf den Demografiefonds zurückgreifen. „Unsere sechs Millionen reichen für rund 120 bis 150 Fälle“, sagt Cakir. Da die Stahlbranche seit geraumer Zeit jedoch mit niedrigen Gewinnmargen zu kämpfen hat, wurde der Demografiefonds zuletzt nicht mehr aufgestockt. Es könnte sein, dass von den Jüngeren später nur noch die tariflich zugesicherten vier Prozent der Belegschaft in Altersteilzeit gehen können.

Auch die neue Altersteilzeit bei Salzgitter wird wie früher im Block abgefeiert. Gudrun Beke wird noch ein Jahr voll arbeiten – ihr Gehalt, in der Teilzeit auf 50 Prozent reduziert, wird dann vom Werk auf 85 Prozent aufgestockt. Im zweiten Jahr bleibt sie ganz zu Hause – zu gleichen Konditionen. „Mit 60 gehe ich dann vorzeitig in Rente.“ Erst der Mix aus gesetzlicher Rente und der Werksrente ermöglicht Beke den Ausstieg. Sie weiß, dass das frühe Ausstiegsalter dauerhaft Abschläge mit sich bringt. „Ohne die Betriebsrente hätte ich darüber gar nicht erst nachdenken brauchen.“ Werksrenten werden in Salzgitter vom Betrieb bezahlt. „Bis in die 90er Jahre hinein war das der Normalfall“, erklärt Norbert Fröhler. „Heute wird die betriebliche Altersvorsorge zunehmend von den Beschäftigten finanziert.“ Der Politikwissenschaftler hat im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung in verschiedenen Branchen den Übergang vom Erwerbsleben in die Rente untersucht. Sein Fazit: Nur manchmal stockt der Betrieb die Beiträge auf. So wie den Betriebsrenten, berichtet er, sei es auch den Schonarbeitsplätzen für ältere Mitarbeiter ergangen. „Was früher in den Werken weit verbreitet war, ist heute so gut wie ausgestorben“, meint Fröhler. „Bei uns gibt’s noch den Hochofenarbeiter, der mit 55 den Rasen mäht“, sagt Hasan Cakir. Der Manteltarif schützt das Lohnniveau derer, die nicht mehr so können wie in ihren besten Jahren. Knapp 300 ehemalige Stahlwerker oder Walzwerker arbeiten im Sozialbetrieb. Doch solche Jobs sind anderswo längst an Fremdanbieter vergeben. Die Salzgitter Flachstahl GmbH ist ein Vorzeigebetrieb.

NEUE ZEIT- UND ANSPARMODELLE

Cakir ist froh, dass es in Salzgitter zusätzlich die Altersteilzeit gibt. Doch er wünscht sich flexiblere Zeitmodelle, für die er sich bei der nächsten Tarifrunde in der Eisen- und Stahlindustrie starkmachen will. Modelle, wie sie bei der Hamburger Hydro-Aluminium, einem Walzwerk mit angeschlossener Gießerei, per Betriebsvereinbarung ausgehandelt wurden. „Bei uns arbeiten alle ab ihrem 55. Lebensjahr drei Nachtschichten weniger pro Jahr, und ab 57 sind es sechs weniger“, erzählt Peter Camin, Betriebsratsvorsitzender im Aluminiumwalzwerk. „Opa-Tage“ nennen sie das in Hamburg. „Wir haben viele ältere Kollegen, die mit der Nachtschicht nicht mehr klarkommen.“„Außerdem“, sagt Camin, „haben wir anstelle der per Tarifvertrag festgelegten vier Prozent der Beschäftigten, die in Altersteilzeit gehen können, fünf Prozent mit dem Management ausgehandelt.“ Bezahlt wird die Aufstockung der Altersteilzeit für die per Tarifvertrag festgelegte Quote wie überall im IG-Metall-Tarifgebiet von den Arbeitgebern. Dafür verzichteten die Arbeitnehmer auf die Auszahlung von 0,3 Prozent der verhandelten Lohnerhöhung. Ein anderes Modell in der Branche ist die Altersfreizeit. Hier wird die wöchentliche Arbeitszeit reduziert. Die Frage ist immer: Wer zahlt?

Auch die chemische Industrie kennt für Beschäftigte, die in besonders belastenden Schichtsystemen gearbeitet haben, zusätzliche freie Tage. Eine der ersten Branchen mit Altersfreizeit überhaupt war allerdings die Zuckerindustrie. Hier haben Beschäftigte, die 58 oder 59 Jahre alt sind, seit 1989 Anspruch auf neun zusätzliche freie Tage pro Jahr. Für alle Beschäftigten im Alter von 60 bis 62 Jahren erhöht sich dieses Kontingent auf 18 freie Arbeitstage. Mit 62 Jahren ist dann allerdings per Manteltarifvertrag schon Schluss. Ab diesem Alter, so dachten sich die Tarifparteien wohl, würden dann Vorruhestands- oder Altersteilzeitregeln greifen.

Doch seit 2009 musste überall in Deutschland nachverhandelt werden – eine Herausforderung für die Gewerkschaften. Nicht immer klappte es. „In der Textilindustrie“, erklärt Wissenschaftler Fröhler, „gab es zum Beispiel keinen neuen Abschluss zur Altersteilzeit.“ In einigen Branchen entfiel der feste Anspruch auf Altersteilzeit, heute gibt es nur noch Kann-Bestimmungen. Auch im öffentlichen Dienst, wo es vor 2009 gar keine Quotenregeln gab und jeder, der wollte, ab seinem 60. Lebensjahr in die geblockte Teilzeit gehen konnte, haben sich die Bedingungen verschlechtert. Heute gilt eine Quote von 2,5 Prozent. Während früher das Gehalt auf 83 Prozent aufgestockt wurde, liegt es heute bei 60. Kein Wunder also, dass die Altersteilzeit heute weitaus seltener genutzt wird als früher.

HOHES INTERESSE AN ZUSATZVORSORGE

In der Chemiebranche schloss die IG BCE in Erwartung dieser Veränderungen bereits 2008 den Tarifvertrag „Lebensarbeitszeit und Demografie“ ab. Dieser stellt fünf Instrumente zur Verfügung: Langzeitkonto, Altersteilzeit, Teilrente, Berufsunfähigkeitszusatzversicherung und die tarifliche Altersvorsorge. Es wurde vereinbart, dass die Arbeitgeber pro Beschäftigtem und Jahr 300 Euro zahlen. Wie das Geld genutzt wird, regelt jeder Betrieb nach eigener Facon. Bereits seit 1998 existiert aber schon ein Altersvorsorge-Abkommen der Sozialpartner, das die Arbeitgeber zu Zahlungen verpflichtet. Zusätzlich stockt der Arbeitgeber individuelle Sparbeiträge um 13 Prozent auf.

So kommt es, dass heute in einem Unternehmen wie der Berlin Chemie AG für jeden unbefristet Beschäftigten bereits ohne Eigenleistung 926 Euro zur Verfügung stehen. Die Mehrheit steckt dieses Geld in eine Direktversicherung. Rund zehn Prozent der 1900 Beschäftigten in Berlin nehmen das Angebot für eine Versicherung nicht wahr – sie haben sich statt dessen für ein Langzeitkonto entschieden, dass ebenfalls in Euro geführt wird, aber dazu dient, die Arbeitszeit individuell zu reduzieren. Das Guthaben aus diesem Langzeitkonto kann jeder ab einem Alter von 50 benutzen, wenn er längere Zeit bei der Berlin-Chemie ist und seine Arbeitszeit aus gesundheitlichen Gründen reduzieren will. Dann wird ein teilweiser Ausgleich gezahlt. Unabhängig vom Alter kann jeder Auszeiten nehmen, um zu Hause jemanden zu pflegen oder die Kinder intensiver betreuen wollen. „Ein Kollege hat über einen längeren Zeitraum kürzer gearbeitet, um seine Mutter zu pflegen“, erzählt Grünberger. Das Angebot deckt einen realen Bedarf: „In diesen Jahr wollten schon fünf oder sechs Leute die Plegeauszeit machen.“

Im Unilever-Werk Buxtehude, das Duschgele der Marken AXE und Dove herstellt, gehen die 300 Euro aus dem Tarifvertrag von 2008 in den Topf der Unilever-Zusatzrente (UZR). Diese Rentenkasse ermöglicht auch eine Einzahlung von laufendem Entgelt oder Erfolgsprämien. „So haben die Kollegen noch eine zusätzliche Möglichkeit, den Übergang in die Rente an ihre persönlichen Bedürfnisse anzupassen“, sagt Jens Theivagt, Betriebsratsvorsitzender des Werkes. Seit 2011 können Mitarbeiter das Geld nutzen, um ab dem 62. Lebensjahr Arbeitszeit zu reduzieren und das Gehalt aufzustocken. Doch die Älteren haben davon kaum noch etwas. „Wer heute Mitte 40 oder 50 Jahre alt ist, hat davon wenig“, meint Hermann Soggeberg, Konzernbetriebsratsvorsitzender bei Unilever. Das Geld reiche nicht zum Aufstocken. „Aber die Jüngeren können es künftig nutzen.“ In der Lebensmittelsparte von Unilever gilt der Demografie-Tarifvertrag aus der Chemiesparte nicht. Hier stockt der Arbeitgeber aber die individuellen Sparbeträge um 13 Prozent auf.

DER SCHNELLE RUHESTAND WIRD TEUER

„In unserer Branche findet nach und nach ein Umdenken statt“, sagt Martin Weiss, Gewerkschaftssekretär bei der IG BCE und zuständig für alle Fragen zur Demografie. Zwar würden viele Beschäftigte immer noch am liebsten vorzeitig in den Ruhestand gehen. Doch beim Blick in die Rentenbescheide ließen sie ganz schnell die Finger davon: „Da gibt es dann das grausige Erwachen.“ Viele arbeiten weiter – und versuchen, etwas Geld zurückzulegen. Die Art und Weise, wie der Demografiefonds in der Chemiebranche genutzt wird, zeigt dies sehr deutlich: In rund 70 Prozent aller Betriebe wird das Geld als tarifliche persönliche Altersvorsorge angelegt.

Vor allem kleine und mittlere Unternehmen wählen diesen Weg, denn die Altersteilzeit ist ihnen oft zu teuer, der Aufwand zu hoch. Immerhin gibt es in 25 Prozent der Betriebe Langzeitkonten – so haben die jüngeren Beschäftigten die Möglichkeit, im Alter ihre Arbeitszeit individuell zu reduzieren. Doch nur sieben Prozent der Unternehmen nutzen das Geld für die Altersteilzeit. Politologe Fröhler vermutet, dass auch der Tarifvertrag selbst mit dem geringen Anteil an Altersteilzeit zu tun hat. Hier ist festgelegt, wie viel die Arbeitgeber pro Mitarbeiter in den Demografiefonds zahlen. „Viele Beschäftigte gehen davon aus, die 300 Euro wären ihr persönliches Geld“, sagt Fröhler. Deshalb falle die Wahl auf individuelle Lösungen. Wolle man die Altersteilzeit im Betrieb durchsetzen, müsse das Geld solidarisch den Älteren zur Verfügung gestellt werden – ohne dass die Jüngeren die Garantie hätten, später selbst einmal in den Genuss einer solchen Regelung zu kommen. Da stellt sich dann schnell die Frage der Generationengerechtigkeit.

So läuft es darauf hinaus, aus den Tarifverträgen noch ein paar Spargroschen herauszuholen. Dafür müssen die Beschäftigten länger im Betrieb bleiben.Wäre es nicht erfüllender, eine ganz neue Lebensphase zwischen den alten Knochenjob und den totalen Ruhestand zu schieben? Eine Phase, in der man vielleicht noch einmal einen ganz anderen Job macht – schlechter bezahlt, aber erfüllender, weniger anstrengend? Ursula von der Leyen hat genau in so eine Richtung gedacht, als sie sagte: „Ob Dachdecker oder Bäcker, niemand muss mit 66 noch genau dasselbe machen, was er mit 16 gelernt hat.“ Eine schöne Idee, wenn sie denn realistisch wäre. Hier stoßen die Tarif- und Betriebspolitik an ihre Grenze. Doch die Ratschläge der Ministerin oder ihr Tipp, wer Berufserfahrung habe, könne ja im Alter auch „Büroarbeit in seiner Branche übernehmen“, löst bei Betriebsrat Hasan Cakir nur ein müdes Lächeln aus: „Massenweise Bürojobs gibt es bei uns nicht“, sagt er. „Bis 67 arbeiten, das schaffen wir nicht!“ Das ist seine Erfahrung und sein politisches Statement.

IG-Metall-Studie

Nur in jedem fünften Betrieb gibt es Möglichkeiten wie Altersteilzeit, um vor Erreichen des gesetzlichen Rentenalters aus dem Erwerbsleben auszuscheiden – dieses Bild ergibt eine aktuelle Umfrage der IG Metall unter 3700 Betriebsräten. Betriebliche Gesundheitsförderung für ältere Beschäftigte gibt es so gut wie gar nicht. Etwa 80 Prozent der Befragten glauben nicht, dass die Mitarbeiter bis 67 durchhalten.

Die Zahl der Mitarbeiter über 60 ist in den Unternehmen der Metall- und Stahlbranche derzeit allerdings mit rund vier Prozent noch äußerst gering. Das dürfte auch daran liegen, dass viele Ältere in den Unternehmen mit Betriebsrat noch die alte Altersteilzeitregelung in Anspruch genommen haben. Doch andere sind auch aus gesundheitlichen Gründen frühzeitig in Rente gegangen und haben Abschläge in Kauf genommen.

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