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Magazin Mitbestimmung

Gewerkschaften in Ägypten: Was wird aus der Mubarak-Kohl-Schule?

Ausgabe 07+08/2012

Mutige Lehrer gründeten noch vor der Revolution des Arabischen Frühlings die ISTT – zu Besuch bei der unabhängigen Lehrergewerkschaft in Kairo und Port Said. Von Manfred Brinkmann

Rund 250 Kilometer sind es von Kairo nach Port Said, jener ­Hafenstadt am Mittelmeer, die am 1. Februar 2012 nach mutmaßlich politisch motivierten Ausschreitungen mit 70 Toten und Hunderten Verletzten traurige Berühmtheit erlangte. Ein heftiger Wind fegt über die Wüstenautobahn, gelbbrauner Sand erschwert die Sicht. Plötzlich blockiert ein Pkw die Fahrbahn, aufgeregt gestikulierende Männer zwingen auch uns anzuhalten. Sofort bildet sich ein Stau. Unser ägyptischer Fahrer, ein hochgewachsener, schwarzer Nubier, sagt: „Bleibt sitzen und verriegelt die Türen“, und geht auf die Männer zu. Kurze Zeit später kehrt er zurück: „Die Leute sind wütend. Es gibt keine Lehrer, um ihre Kinder in der Schule zu unterrichten“, klärt er uns auf. Mit einiger Verspätung erreichen wir Port Said. Dort werden wir bereits vom lokalen Vorsitzenden der Lehrergewerkschaft ISTT, Mohammed Zakareya Hassona, seiner Stellvertreterin Zeinab Khalil und einigen Lehrern erwartet.

Die „Independent Federation of Egyptian Teachers“, ISTT, wurde vor zwei Jahren als neue, unabhängige Interessenvertretung von Lehrkräften an öffentlichen Grund- und Sekundarschulen gegründet. Sie versteht sich als Teil der demokratischen Bewegung und war Anfang 2011 aktiv an den Protesten beteiligt, die zum Sturz Mubaraks führten. Bis dahin existierte für die Lehrkräfte in Ägypten nur eine Staatsgewerkschaft als verlängerter Arm des Bildungsministeriums. Der Bildungsminister ist gleichzeitig Generalsekretär der Gewerkschaft. Dass sich die ISTT trotz der widrigen Bedingungen und noch vor der Revolution gründete, weist auf den Mut der Lehrerinnen und Lehrer hin, die gleichsam eine illegale Organisation ins Leben riefen. Ihre Arbeit wurde von staatlicher Seite massiv behindert, ihre Mitglieder verfolgt, misshandelt und inhaftiert. „Das sind unsere Märtyrer, sie haben ihr Leben im Kampf für die Freiheit verloren“, sagt Mohammed Zakareya und deutet im Büro der Gewerkschaft auf ein Plakat mit Bildern von drei Männern und einer Frau, die während des Aufstands getötet wurden. Die Revolution führte zwar zu einer De-facto-Anerkennung unabhängiger Gewerkschaften, die überall in Ägypten neu entstanden. Rechtlich ist deren Arbeit jedoch nicht abgesichert; noch gelten die Arbeitsgesetze aus der Mubarak-Zeit. Auch existieren die Staatsgewerkschaften weiterhin – ein großes Hindernis für die Entwicklung autonomer, demokratischer Gewerkschaften. „Solange die alten Gewerkschaften fortbestehen und Pflichtbeiträge einziehen, ist es für uns sehr schwierig, Mitglieder zu werben“, berichtet Mohammed Zakareya. „Wer seine Mitgliedschaft in der Staats­gewerkschaft aufkündigt, verliert soziale Leistungen wie Krankenversicherung und Rentenansprüche, die von den alten Gewerkschaften verwaltet werden.“ In der 700 000-Einwohner-Stadt Port Said gibt es rund 10 000 Lehrerinnen und Lehrer. Die neue Gewerkschaft hat hier 1250 Mitglieder, die auch regelmäßige Mitgliedsbeiträge zahlen. Das Geld wird bar in den Schulen eingesammelt, jedes Mitglied zahlt pro Monat fünf ägyptische Pfund, etwa 60 Cent. Der Gewerkschaftsvorstand – acht Frauen und sieben Männer – wurde im März 2011 auf einem Delegiertenkongress gewählt. „Wir Lehrerinnen unterstützen die Revolution und machen mit beim Aufbau unserer Gewerkschaft“, berichtet die stellvertretende ISTT-Vorsitzende Zeinab Khalil.

MODELL DUALE AUSBILDUNG

In Begleitung der ISTT-Kolleginnen besuchen wir die „Dr.-Ahmed-Zweil-Schule“. Vor der Revolution hieß sie „Mubarak-Kohl-Schule“ – eine Berufsschule für Mädchen, die mit Unterstützung der deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit, GIZ, gegründet wurde und auf eine Initiative des früheren Bundeskanzlers Helmut Kohl und des gestürzten ägyptischen Präsidenten Mubarak zurückgeht. Stolz berichtet uns Gewerkschaftsvorsitzender Zakareya, dass es gelungen sei, die örtlichen Textilunternehmen in die Ausbildung einzubeziehen, so dass die Mädchen in Anlehnung an das duale System in Deutschland einen Teil ihrer Ausbildung im Betrieb absolvieren.

Ein paar Straßen weiter verweist ein großes Schild auf die „Technical Technological Experimental School“, eine neu gegründete Berufsschule, die seit einem Jahr Jungen in technischen Berufen ausbildet. Auch hier existieren Kooperationsvereinbarungen über eine duale Ausbildung mit den ortsansässigen petrochemischen Unternehmen. „Die Zusammenarbeit von Berufsschulen und Unternehmen wie bei uns in Port Said ist eine Ausnahme in Ägypten und beispielhaft für unser Land“, lobt Mohammed Zakareya und überreicht dem Schulleiter eine Urkunde seiner Gewerkschaft. Beide bekunden großes Interesse an einer Unterstützung aus Deutschland, um dieses duale Modell zu fördern und weiterzuentwickeln.

Rund 800 000 Lehrerinnen und Lehrer unterrichten an öffentlichen Schulen in Ägypten, etwa gleich viele wie hierzulande. Doch die ägyptische Bevölkerung ist erheblich jünger: Jeder Dritte ist unter 14 Jahren, so dass Klassenstärken von 50 Kindern keine Ausnahme sind. Zwischen 75 und 150 Euro erhalten Lehrerinnen und Lehrer monatlich für ihre Arbeit, was selbst bei den niedrigen Lebenshaltungskosten in Ägypten zum Leben nicht reicht. Ein erster nationaler Lehrerstreik der ISTT im September 2011 brachte zwar viel öffentliche Aufmerksamkeit, aber keine finanziellen Verbesserungen.

Fast jeder ägyptische Lehrer muss etwas hinzuverdienen durch Privatunterricht oder als Taxifahrer. Und nur 40 Prozent der Lehrer haben einen unbefristeten Vertrag. Die Zukunft der ISTT und anderer unabhängiger Gewerkschaften hängt wesentlich davon ab, ob es gelingt, ein neues, demokratisches Arbeitsgesetz durchzusetzen, das die gewerkschaftliche Freiheit garantiert und dem Monopol der Staatsgewerkschaften ein Ende macht. Dazu wird es auch internationalen politischen Drucks auf die ägyptische Regierung bedürfen.

Die neuen ägyptischen Gewerkschaften sehen sich mit Problemen konfrontiert, die für Übergangsphasen von der Diktatur zur Demokratie typisch sind: Es fehlt an Geld und Kommunikationsmitteln, an Erfahrungen mit demokratischen Entscheidungsprozessen und an Führungspersönlichkeiten. Finanzielle Hilfen aus dem Ausland sind verboten und politisch gefährlich für die neuen Gewerkschaften. Rivalitäten sowie Widerstände seitens der alten, korrupten Strukturen in Staat und Gesellschaft machen die Lage nicht besser. Die Staatsgewerkschaften werden nicht einfach verschwinden, sondern vermutlich wie in Osteuropa nach der Demokratisierung neben den neuen Gewerkschaften künftig weiter existieren. Hoffnung macht, dass an der gewerkschaftlichen Basis, in Betrieben, Verwaltungen und Schulen viel in Bewegung ist: Dauernd finden irgendwo im Land am Nil Streiks und Protestaktionen statt und gründen sich neue, lokale Gewerkschaftsgruppen.

Text und Foto: Manfred Brinkmann, zuständig für internationale Beziehungen bei der GEW

Ägyptische Jugend ohne Jobs

Nahezu jeder dritte Ägypter ist unter 14 Jahre alt – eine sehr junge Bevölkerung, die Bildung und Zukunft braucht. Insgesamt hat das Land am Nil rund 85 Millionen Einwohner, jeder zweite davon ist im erwerbsfähigen Alter. Mit Abstand der wichtigste Arbeitgeber ist der (überdimensionierte) Staatsapparat und öffentliche Dienst mit 15 Millionen Beschäftigten: Allein die Forstverwaltung des Wüstenstaates hat 113 000 Beschäftigte, das Gesundheitsministerium 65 000. Zwei bis vier Millionen Menschen arbeiten in Unternehmen, die dem militärischen Komplex angehören – der keine Steuern zahlt und dessen Arbeitsbedingungen wenig transparent sind. Acht Millionen Ägypter sind im ungesicherten, informellen Sektor tätig und genausoviele im Ausland – vor allem die gut ausgebildete, kritische Mittelschicht verlässt in Scharen das Land; ein Trend, der von allen bisherigen Regierungen mehr befördert als verhindert wurde. Dramatisch ist die Lage der Jugend in Ägypten: Nach Angaben der UN-Entwicklungsorganisation UNDP sind neun von zehn Arbeitslosen jünger als 30 Jahre. 27 Prozent der 18- bis 29-Jährigen haben nach UN-Angaben keine abgeschlossene Grundschulausbildung; in den ländlichen Regionen haben bis zu 80 Prozent keine Schule besucht. Abgehängt werden vor allem die Mädchen sowie Kinder aus armen Familien – womit die Armut sich von Generation zu Generation vererbt. Auch Korruption ist ein beharrliches Problem: Auf dem jüngsten Korruptionsindex von Transparency International steht Ägypten auf Platz 112 von 182. Jahrzehntelange Korruption hat dafür gesorgt, dass jeder Ägypter nicht einen, sondern zwei Arbeitsverträge unterzeichnen muss – einen, der mit den Gesetzen konform geht und einen weiteren, in dem alles mögliche geschrieben stehen kann, von einer viel zu hohen Wochenarbeitszeit bis zu dem Satz „Ich akzeptiere jederzeit meine fristlose Kündigung.“

Gewerkschaften waren bis zur Revolution im Januar 2011 nur im Öffentlichen Dienst und in Staatsbetrieben zugelassen. Der alte Gewerkschaftsbund, die Egyptian Federation of Trade Union, war zu Mubarak-Zeiten schlicht der verlängerte Arm der Regierung – ähnlich wie im realen Staatssozialismus. Dass es gelingt, den alten Gewerkschaftsapparat in eine demokratische Organisation umzuwandeln, halten Beobachter für unwahrscheinlich – und verweisen darauf, dass es bisher keinerlei Anzeichen für eine personelle Erneuerung gibt. Seit der Revolution haben sich 260 Gewerkschaften gegründet. Die beiden wichtigsten Träger von Arbeitnehmerinteressen in Ägypten sind nun der Dachverband der unabhängigen Gewerkschaften EFITU und das „Center for Trade Union and Workers“, deren Führungen derzeit aber miteinander im Streit liegen. Weiter erschwerend kommt hinzu, dass die EFITU bisher in den Betrieben nicht präsent ist.

Text: Jeannette Goddar/Redaktion

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