zurück
HBS Böckler Impuls

Soziale Sicherung: Pflicht zur privaten Vorsorge? Probleme mit Grundgesetz absehbar

Ausgabe 05/2012

Private, kapitalgedeckte Versicherungen gewinnen im Sozialsystem an Bedeutung. Riester-Rente oder Pflege-Bahr verpflichtend zu machen, wäre aber aus verfassungsrechtlicher Sicht problematisch, warnt die Juraprofessorin Anne Lenze.

Ursprünglich sollte die geplante private Pflege-Zusatzversicherung obligatorisch werden; so steht es im Koalitionsvertrag der Bundesregierung. Nun läuft es auf ein staatlich gefördertes, aber freiwilliges Modell hinaus. Damit orientiert sich der „Pflege-Bahr“ an der Riester-Rente. Allerdings wird auch deren Umgestaltung zu einer Pflichtversicherung immer wieder diskutiert. Daher hat Lenze überprüft, ob eine allgemeine Pflicht zum Abschluss privater Versicherungen gegen soziale Risiken mit dem Grundgesetz zu vereinbaren wäre. Angesichts der Schwächen des Kapitaldeckungsprinzips erscheine das zumindest zweifelhaft, so die Professorin für Sozialrecht an der Hochschule Darmstadt.

Wenn der Staat seinen Bürgern vorschreibt, wofür sie ihr Einkommen ausgeben sollen, ist dies ein Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit, die Artikel 2 des Grundgesetzes garantiert. Beschränkungen der Handlungsfreiheit sind prinzipiell zulässig. Sie müssen aber gut begründet sein, so Lenze. Der Grundrechtseingriff müsse „legitime Zwecke des Gemeinwohls verfolgen“ und verhältnismäßig sein. Das heißt: Die Betroffenen sollen nicht unangemessen belastet werden und die Mittel müssen geeignet sein, das Ziel zu erreichen. Dass die Gesellschaft Vorsorge treffen müsse, um eine wachsende Zahl von Ruheständlern und Pflegebedürftigen zu versorgen, sei unbestritten, schreibt Lenze. Ob kapitalgedeckte Privatversicherungen als probates Mittel dafür anzusehen sind, sei hingegen fraglich.

Kapitaldeckung ist nicht krisenfest. Die Wissenschaftlerin verweist auf neuere Befunde zur Alterssicherung. Sie machten deutlich, dass kapitalbasierte Vorsorgesysteme dem Umlageprinzip der gesetzlichen Sozialversicherung nicht überlegen sind – im Gegenteil. So habe die umlagefinanzierte Rente die jüngste Finanzkrise schadlos überstanden, während das Kapital der Privat- und Betriebsrenten deutlich schrumpfte. Im Jahr 2009 mussten Lebensversicherer einen Teil der Zinsen aus den Rücklagen finanzieren. Der Garantiezins für neu abgeschlossene Verträge beträgt inzwischen nur noch 1,75 Prozent. Laut OECD verloren private Alterssicherungsfonds 2008 weltweit 5,4 Billionen US-Dollar an Wert; ein Einbruch um 23 Prozent. Viele Pensionsfonds hätten ihre Verluste bis heute nicht aufgeholt, schreibt Lenze.

Der Wissenschaftlerin zufolge werden soziale Absicherungsmodelle über den Kapitalmarkt nicht nur Opfer von Finanzkrisen, sondern sind auch an deren Entstehung beteiligt. Denn die Förderung der privaten Vorsorge in vielen Ländern habe „einen noch größeren Teil des Volkseinkommens auf die Mühlen der Banken und Versicherungen gelenkt“ – und damit die Aufblähung des Finanzsektors befördert. Beispielsweise trug auch Geld, das in Deutschland zur Alterssicherung zurückgelegt worden war, zur Entstehung der amerikanischen oder spanischen Immobilienblase bei.

Den häufig versprochenen entscheidenden Beitrag zur Lösung demografischer Probleme könne Kapitaldeckung ebenfalls nicht leisten, stellt Lenze mit Verweis auf internationale Untersuchungen fest. So zeichne sich etwa in Großbritannien und den Niederlanden bereits ab, dass die Alterssicherungsfonds in Schwierigkeiten geraten, weil die Auszahlungen an Ältere zunehmen, während weniger Junge einzahlen. Abgesehen davon sei die häufig im Zusammenhang mit Privatversicherungen beschworene Generationengerechtigkeit ohnehin keine Vorstellung, die sich aus dem Grundgesetz ableiten lasse.

Schließlich würde etwa eine verpflichtende kapitalfundierte Pflegezusatzversicherung besonders für viele Geringverdiener oder Eltern eine unzumutbare Belastung darstellen, so die Juristin. Ihr Fazit: Verpflichtende Privatversicherungen dürften kein verfassungskonformes Instrument der sozialen Sicherung sein.

  • Die Krise hat gezeigt: Kapitaldeckung ist dem Umlageverfahren keineswegs überlegen Zur Grafik

Anne Lenze: Kapitalgedeckte Zusatzversicherungen für die soziale Absicherung im Lichte der Verfassung, in: Soziale Sicherheit 12/2011.

Impuls-Beitrag als PDF

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen