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Magazin Mitbestimmung

: Geduldiges Papier

Ausgabe 05/2010

ARBEITSSCHUTZ Seit 1996 gilt ein fortschrittliches Gesetz, das ganzheitliche Gefährdungsbeurteilungen vorsieht - psychische Belastungen inklusive. Doch nur ein Teil der Betriebe hält sich daran. Es gibt in der Praxis kaum Sanktionen.

Von ELKE AHLERS, Gesundheitsexpertin und Doktorandin der Hans-Böckler-Stiftung


Als im Jahr 1996 ein neues Arbeitsschutzgesetz erlassen wurde, sollte dieses auch der zunehmenden Bedeutung psychischer Belastungen in der Arbeitswelt Rechnung tragen. Neu war insbesondere die Gefährdungsbeurteilung, geregelt in Paragraf 5. Ziel ist es, die Arbeitsbedingungen im Betrieb ganzheitlich zu beurteilen. Neben klassischen Gefahren physikalischer, chemischer und biologischer Natur sollen seitdem auch Gefahren berücksichtigt werden, die sich aus der "Gestaltung von Arbeits- und Fertigungsverfahren, Arbeitsabläufen und deren Zusammenwirken" und "unzureichender Qualifikation und Unterweisung der Beschäftigten" ergeben.

Seit 14 Jahren gilt das neue Recht. Um eine menschengerechte Gestaltung der Arbeit zu gewährleisten, müssten die Arbeitgeber seitdem auch die Fehlbelastungen thematisieren, die durch den herkömmlichen, technisch orientierten Arbeitsschutz nicht abgedeckt sind: das Verhalten der Führungskräfte, die Gestaltung der Arbeitszeit, häufige und störende Unterbrechungen in der Arbeit, eine zu große Arbeitsmenge und vieles mehr. Doch obwohl Gefährdungsbeurteilungen für alle Arbeitgeber verpflichtend sind, wird ein Verstoß gegen das Gesetz nicht sanktioniert. Ein Skandal: Ob Arbeitgeber eines der wichtigsten Gesetze zum Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer auch umsetzen, ist ihnen faktisch freigestellt. Obwohl das Gesetz zum Teil erhebliche Geldstrafen vorsieht, werden Verstöße von den Arbeitsschutzbehörden in der Praxis kaum sanktioniert. Hinzu kommt, dass Umfang und Form von Gefährdungsbeurteilungen im Gesetz nicht festgelegt sind. Oft retten sich Arbeitgeber damit, eine Gefährdungsbeurteilung zu dokumentieren, die nur Minimalstandards berücksichtigt. Sanktionen drohen eher indirekt: Wenn es im Betrieb zu einem Arbeitsunfall kommt, prüfen die Unfallversicherungsträger zuerst, ob der Betrieb ordnungsgemäß Gefährdungsbeurteilungen durchgeführt hat. Ist dies nicht der Fall, können sie unter Umständen die Übernahme von Kosten verweigern. Dabei stellen Gefährdungsbeurteilungen das einzige gesetzlich verbindliche Instrument dar, das in der Lage ist, psychische Belastungen im Betrieb wirksam zu bekämpfen. Den Betriebsräten fällt damit eine wichtige, aber schwierige Rolle zu. Sie haben eine Reihe von Mitbestimmungsrechten (nach §§ 87 und 91 Betriebsverfassungsgesetz) und Mitwirkungsrechten, sodass sie explizit auf der Umsetzung des Gesetzes und damit auf einer Gefährdungsbeurteilung bestehen können. Doch ein erheblicher Teil von ihnen ist mit diesem Instrument überfordert oder sieht den Nutzen von Gefährdungsbeurteilungen offenbar selbst als fraglich an.

DIE ERNÜCHTERNDE PRAXIS_ Bis heute gibt es nur in einem Teil der Betriebe Gefährdungsbeurteilungen. Die Ergebnisse derBetriebsrätebefragung von 2008/09 zeigen, dass sie nur in 56 Prozent der erfassten Betriebe durchgeführt wurden. Davon wiederum hat nur jeder vierte Betrieb auch die psychischen Belastungen erfasst. Damit ist der eigentliche Zweck von Gefährdungsbeurteilungen, nämlich auch die durch zunehmenden Zeit- und Leistungsdruck entstehenden Arbeitsbelastungen mit ins Blickfeld zu nehmen, verfehlt. Ein Viertel der Betriebsräte gibt an, dass überhaupt keine Gefährdungsbeurteilung stattgefunden hat. Weitere 18 Prozent sind sich dessen nicht sicher. Vor dem Hintergrund, dass es sich bei den erfassten Betrieben der Betriebsrätebefragung (im Vergleich zu Unternehmen ohne Interessenvertretung) um eine privilegierte Gruppe handelt, sind selbst diese Zahlen noch optimistisch. Folglich kommen andere Befragungen zu noch negativeren Ergebnissen. Beim DGB-Index "Gute Arbeit" von 2008 geben nur 30 Prozent der Beschäftigten an, an einer Gefährdungsbeurteilung teilgenommen zu haben. Die anderen haben noch keine Gefährdungsbeurteilung erlebt.

Einiges spricht dafür, dass die verantwortlichen Akteure schlicht überfordert sind, das geltende Gesetz in die Praxis umzusetzen. Wie die jüngste WSI-Betriebsrätebefragung zeigt, trauen sich viele Betriebsräte an das Thema nicht heran. Die vermeintlich schwierige Handhabbarkeit von Gefährdungsbeurteilungen gehört zu den am häufigsten genannten Erklärungen der Betriebsräte (69 Prozent) auf die Frage, warum im Betrieb bisher keine oder nur lückenhafte Gefährdungsbeurteilungen durchgeführt wurden. Schriftliches Material gibt es zur Genüge - oft wäre aber die Hilfe von externen Beratern wie Unfallkassen oder Berufsgenossenschaften notwendig. Nicht selten blockiert aber auch die Arbeitgeberseite die Durchführung ganzheitlicher Gefährdungsbeurteilungen, oft, weil ein Zusammenhang zwischen belastenden Arbeitsbedingungen und der Gesundheit der Beschäftigten von ihr geleugnet wird. Häufig vertreten die Arbeitgeber die Ansicht, dass es in ihrem Unternehmen keine psychischen Belastungen der Beschäftigten gebe - und wenn doch, dann seien diese nicht arbeitsbedingt. Auch die hohen Kosten, die Gefährdungsbeurteilungen mit sich bringen könnten, werden von den Arbeitgebern als Grund genannt.

Hinzu kommt, dass das Gesetz kein bestimmtes Verfahren zur Beurteilung psychischer Belastungen vorschreibt. Dies führt in der Praxis zu erheblichen Unsicherheiten, ob und in welcher Form bzw. mit welchem Verfahren psychische Belastungen ermittelt und beurteilt werden können. Zwar liegen mittlerweile über 80 Instrumente und Verfahren zur Beurteilung psychischer Belastungen vor. Die Scheu, diese anzuwenden, ist aber groß. Die Verfahren gelten als zu aufwendig, expertenorientiert und für Praktiker und Beschäftigte nicht nachvollziehbar. Einfache Anleitungen in Form von Kochrezepten kann es jedoch nicht geben. Denn psychische Fehlbelastungen werden von den Beschäftigten individuell unterschiedlich wahrgenommen und können je nach Betriebs- oder Abteilungsstruktur die unterschiedlichsten Ursachen haben. Deshalb kommt es darauf an, sehr intensiv mit den Beschäftigten in den Betrieben zusammenzuarbeiten und Arbeitsbelastungen zu erfragen. Auch die daraufhin ermittelten Verbesserungen am Arbeitsplatz werden nur dann erfolgreich sein, wenn diese partizipationsorientiert erarbeitet werden.

BERÜHRUNGSÄNGSTE_ Noch immer gelten die psychischen Arbeitsbelastungen als diffus und tabubesetzt. In der WSI-Betriebsrätebefragung nennen die Arbeitnehmervertreter den schwierigen Umgang mit psychischen Arbeitsbelastungen (89 Prozent) mit Abstand als die häufigste Ursache dafür, dass es noch keine ganzheitliche Gefährdungsbeurteilung im Betrieb gegeben hat. Sie gelten als despektierlich, weil damit vor allem Probleme und Symptome wie Mobbing, Depressionen oder Sucht verbunden werden. Die mittlerweile als alltäglich empfundenen Belastungen wie Leistungsdruck und Arbeitsverdichtung werden kaum dazu gezählt. Von Stress und Zeitdruck betroffen zu sein wird zwar von vielen Beschäftigten leidenschaftlich gern thematisiert - aber kaum als krank machende Bedrohung. Kaum ein Beschäftigter spricht gerne darüber, den Anforderungen am Arbeitsplatz möglicherweise nicht gewachsen zu sein.

Dabei sind psychische Belastungen längst auch ein Thema motivierter Leistungsträger. Zur Tabuisierung passt die Tendenz, Leistungsdruck und Terminhetze zu individualisieren statt sie als Problem des Betriebes und der Arbeitsorganisation zu verstehen. Viele Beschäftigte suchen die Gründe für ihre Überlastung bei sich selbst, beschuldigen sich dabei der Unorganisiertheit und buchen eher Seminare zum Zeitmanagement oder zur Stressbewältigung, als dass sie fragwürdige Zielvereinbarungen oder schlechtes Führungsverhalten für ihre Belastungen verantwortlich machen. Hilfreich wäre, wenn nicht die Symptome des einzelnen Mitarbeiters, sondern die krank machenden Arbeitsbedingungen im Mittelpunkt der Gefährdungsanalyse stehen.

Nicht nur die Individualisierung psychischer Belastungen stellt ein Hemmnis dar - auch Gestaltungsfatalismus im Sinne von "Es ändert sich ja doch nichts" erschwert rasche Fortschritte. In der Praxis der Betriebsratsarbeit fällt das Thema Gesundheit immer wieder hinter anderen betrieblichen Erfordernissen zurück. Angesichts der ständigen Umstrukturierungen in vielen Betrieben ist das allzu verständlich. Der Prozess hin zu einer ersten ganzheitlichen Gefährdungsbeurteilung in einem Betrieb kann sehr langwierig sein. Oft müssen die Beschäftigten für eine Auseinandersetzung mit psychischen Belastungen erst sensibilisiert werden, bevor sie sich dazu bereit erklären. Auch Führungskräfte müssen mit ins Boot genommen werden. Und ins Stocken gerät dieser Prozess immer dann, wenn "harte" Themen wie Entlassungen oder Verlagerungen von Betriebsteilen anstehen. Gesundheitsthemen fallen dann schnell unter den Tisch.

EXTERNE MIT AN BORD NEHMEN_ Am günstigsten ist es im Betriebsalltag, externe Fachleute mit der Durchführung und Auswertung der Gefährdungsanalyse zu beauftragen und diese mit den im Betrieb zuständigen Personen zusammenarbeiten zu lassen. Krankenkassen wie die Betriebskrankenkassen oder die AOK verfügen über Erfahrungen oder können Experten vermitteln. Das Sammeln von Erkenntnissen über den Zusammenhang von arbeitsbedingten Gesundheitsrisiken und Erkrankungen gehört zum gesetzlichen Auftrag der Krankenkassen (V. Sozialgesetzbuch § 20). Es ist aber auch möglich, dass der Betriebsrat, eine betriebliche Gesundheitsgruppe oder Vertrauensleute eine Mitarbeiterbefragung organisieren und sich Hilfe bei gewerkschaftsnahen Beratungsstellen holen. Hier aktiv zu werden, wäre ein wichtiger Dienst an den Belegschaften.

Es wird für die Beschäftigten nicht folgenlos bleiben, wenn ein allgemein verbindliches Gesetz unbeachtet bleibt. Den Betriebsräten käme angesichts der psychischen Arbeitsbelastungen eine wichtige Regulierungs- und Gestaltungsaufgabe zu. Denn derweil nehmen die Gefährdungen und die Erkrankungen weiter zu.


BETRIEBSRATSARBEIT

Checkliste Gefährdungsbeurteilung

Jeder Arbeitsplatz sollte auf seine konkreten Arbeitsbedingungen und Belastungen hin abgeklopft werden. So können für jeden Mitarbeiter körperliche und psychische Fehlbelastungen erkannt und auf Dauer so gering wie möglich gehalten werden. Das Verfahren sollte in vier Schritten ablaufen - und regelmäßig wiederholt werden:

Prüfung auf Belastungen einschließlich psychosozialer Faktoren wie Führungsverhalten, Betriebsklima und Arbeitsorganisation (Ganzheitlichkeit). Dies geschieht - gerade auch bei psychischen Belastungen - unter Mitwirkung der dort Beschäftigten (Beteiligungsorientierung). Um ein ehrliches Bild zu erhalten, ohne dass Beschäftigte berufliche Nachteile befürchten müssen, bieten sich schriftliche, anonyme Befragungen an. Sie vermitteln einen Gesamteindruck über das Ausmaß der Fehlbelastungen.

Die Ergebnisse der Gefährdungsbeurteilungen werden schriftlich dokumentiert und gegenüber Betriebsrat und Belegschaft transparent gemacht. (Betriebsversammlung, Gespräche mit dem Management).

Aus der Analyse sollen Maßnahmen zur Reduktion der Belastungen abgeleitet werden.

Nach einer gewissen Frist wird geprüft, ob die aus den Gefährdungsbeurteilungen abgeleiteten Maßnahmen auch wirksam geworden sind.

Nur wenn alle vier Schritte umgesetzt werden, lässt sich von einer hochwertigen und ganzheitlichen Gefährdungsbeurteilung sprechen. Von diesen Rahmenbedingungen abgesehen, haben die Verantwortlichen und Akteure viel Freiraum in der Umsetzung ihrer Gefährdungsbeurteilungen.

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