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Magazin Mitbestimmung

: Wozu noch Gewerkschaften?

Ausgabe 01+02/2005

Die Gewerkschaften haben an Einfluss verloren. Ihre führenden Köpfe müssen sie stärker und realitätstüchtiger hinterlassen, als sie sie vorgefunden haben. Bei den Diskussionen um die Zukunft müssen sie Vorreiter und nicht Nachzügler sein.

Von Warnfried Dettling
Dr. Dettling lebt als freier Autor in Berlin.

Gewerkschaften geht es wie anderen Institutionen auch. Mitglieder laufen weg. Ansehen und Einfluss gehen zurück. Allüberall lassen sich Phänomene einer "inneren Emigration" beobachten, wie Oskar Negt sie diagnostiziert hat: in Kirchen und Parteien, in Gewerkschaften und in den Arbeitgeberverbänden. Sinn, Ziel und Zweck des jeweiligen Verbandes verstehen sich nicht mehr von selbst, und sie können nicht einfach bewahrt, sie müssen vielmehr neu erarbeitet werden. Das gilt weniger für die abstrakten Höhen.

Es gilt aber umso mehr für all jene Bereiche, wo Werte und Wirklichkeiten zusammenstoßen, wo Grundwerte in Handlungsmaximen und Orientierungen in operative Strategien übersetzt werden. Wenn Konservative "Heimat" sagen oder "Familie" oder "Vaterland", dann beschreiben sie keine eindeutigen Sachverhalte mehr. Ähnlich ergeht es jenen, die "Gerechtigkeit" und "Solidarität" einfordern, ohne sich Rechenschaft darüber abzulegen, ob die alten Gehäuse die alten Werte in einer veränderten Welt überhaupt noch beherbergen können. Die Organisationskrise findet ihren Ausdruck in rückläufigen Zahlen. In ihrem Kern jedoch ist sie eine Sinn- und eine Orientierungskrise.

Auf diese Lage kann man unterschiedlich reagieren. Nahe liegt die Versuchung des Rückzuges: der Kirchen in die Kirchen, der Gewerkschaften in die Betriebe, der Parteien in die Schlacht um die Macht. Ironischerweise holen sich die Meister des Rückzugs ihre Leitidee aus der McKinsey-Welt: Besinnung auf das Kerngeschäft, so sagen sie. Es ist hier nicht der Ort, zu fragen, ob, für wen und unter welchen Randbedingungen solche Reaktionen vernünftig und erfolgreich sein könnten; wo es sich um einen geordneten Rückzug handelt, der den Rücken frei macht für neue Aufbrüche, und wo nur mehr Regressionen schlecht kaschiert werden: das Schrumpfen und Schwinden der geistigen Kraft und der gesellschaftlichen Reichweite.

Dieser Essay versucht, am Beispiel der Gewerkschaften eine andere Perspektive auszuloten. Am Anfang steht die These, dass die Zukunftsperspektive einer großen Institution oder Organisation nicht alleine aus deren Binnenperspektive gewonnen werden kann. Die Welt passt sich nicht an. Dann bleibt nur, so scheint es, sich der Welt anzupassen. Wer nicht mit der Zeit geht, der geht mit der Zeit. Diese Position legt eine autoplastische Strategie nahe: Wer erfolgreich sein und bleiben will, muss sich selbst immer wieder den neuen Realitäten anpassen. Anpassungsvirtuosen werden zu sozialen Leitfiguren des 21. Jahrhunderts.

Es ist offensichtlich, dass die Gewerkschaften aus einer anderen Tradition kommen. Sie haben die soziale Umwelt der Menschen, sie haben Staat und Gesellschaft verändert. Man kann es auch anders sagen: Die Gewerkschaften waren mit alloplastischen Strategien sehr erfolgreich. Je mehr man Macht und Kontrolle über die Umwelt hat, umso mehr kann man bleiben, wie man ist, umso weniger muss man dazulernen, umso erfolgreicher können Versuche sein, die eigene Programmatik der Gesellschaft überzustülpen wie den Helm einem Rekruten. Das ist vermutlich der Kern aller Dinge, der Organisations- wie der Orientierungskrise in den Gewerkschaften: Mit dem Ende des nationalen Sozialstaates, mit Globalisierung und Digitalisierung haben sich die Bedingungen ihres Erfolgs grundlegend verändert.

Der Einfluss der Gewerkschaften, so wie sie sind, auf die Gestaltung der sozialen Welt hat drastisch abgenommen. So betrachtet sind Gewerkschaften in einer unbequemen Lage: Sie können bleiben, wie sie sind - und werden dann immer uninteressanter, selbst für die "eigene" Regierung. Oder sie können sich anpassen bis zur Ununterscheidbarkeit. Wozu dann aber noch Gewerkschaften? Oder sie können den Wandel mehr oder weniger leugnen, sich in ihrer Festung verschanzen und warten, bis die Bedrohungen draußen vorbeigezogen sind. Was aber, wenn sich die Welt draußen nicht wieder zu ihren Gunsten verändert?

Man kann die Lage der Gewerkschaften auch aus einer anderen Perspektive betrachten. Die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Guy Kirsch und Klaus Mackscheidt haben zu Beginn der Ära Kohl ein kleines, aber feines Buch vorgelegt, das nicht nur eine psychologische Ergänzung der ökonomischen Theorie der Demokratie, sondern auch eine Theorie des sozialen Wandels enthält. "Staatsmann, Demagoge, Amtsinhaber" sind für politische oder gewerkschaftliche Akteure drei unterschiedliche Möglichkeiten, auf den Wandel in der Welt und in der Gesellschaft zu reagieren.

Der Amtsinhaber versieht die laufenden Geschäfte im Rahmen und im Horizont und nach den Regeln der gegebenen Verhältnisse, und das bedeutet immer auch im Rahmen der Erwartungen und Beschränktheiten seiner Wähler, Mitglieder, Kunden. Der Amtsinhaber ist die ideale Entsprechung zu normalen, ruhigen Zeiten. Wenn er Glück hat, übergibt er sein Land, seinen Verband am Ende seiner Amtszeit so, wie er es/ihn angetroffen hat. Der Staatsmann hingegen zeichnet sich dadurch aus, dass er Vorurteile überwindet, die besseren Instinkte der Menschen anspricht, die Gesellschaft an neue Realitäten heranführt und auf diese Weise neues Land (im übertragenen Sinne) gewinnt und neue Handlungsfelder erschließt.

Er hinterlässt sein Land oder seine Gewerkschaft stärker und freier, realitätstüchtiger und mit mehr Handlungsmöglichkeiten, als er es/sie angetroffen hat. Der Demagoge hingegen appelliert in Zeiten des Wandels an die Ängste und Vorurteile der Menschen, er sucht und findet drinnen und draußen Sündenböcke für den Niedergang des eigenen Volkes oder des eigenen Verbandes und verspricht, im Kampf gegen diese Gefahren den früheren Zustand wieder herzustellen. In Wahrheit aber macht der Demagoge die Leute dümmer und die Lage schlimmer, bis hin zum endgültigen Untergang.

Der Staatsmann gewinnt historisches Profil, weil er seinem Land oder seiner Organisation das für die Zukunft passende historische Profil verschafft, welches an die Traditionslinien anschlussfähig ist, aber nicht bei ihnen stehen bleibt. Weder vergisst der "Funktionär" als "Staatsmann" Werte, Mission und Geschichte noch den Wandel der Zeiten. So, und nur so ist er in der Lage, seine Gewerkschaft in die Zukunft - und in eine Zukunft als Gewerkschaft zu führen.

So verwandelt sich die Frage: "Wozu noch Gewerkschaften?" in die umfassende Frage: Was sind die politischen Aufgaben und die gesellschaftlichen Widersprüche in einer veränderten Welt, und bergen diese Aufgaben, Widersprüche und Veränderungen möglicherweise die Chance einer neuen "Nachfrage" nach den Gewerkschaften? Was damit gemeint ist, soll an zwei großen Veränderungen wenigstens angedeutet werden: an der Transformation des Staates und an dem Strukturwandel der Arbeit.

Wenn nicht alle Zeichen täuschen, durchlaufen fast alle entwickelten Industriegesellschaften gegenwärtig einen Wandel ihrer Staatlichkeit. Verschiedene Epochen und Formen der Staatlichkeit lassen sich deutlich unterscheiden: die Entwicklung des Rechtsstaates im 18. Jahrhundert, der Beginn des Sozialstaates im späten 19. Jahrhundert, Scheitern und Erfolg der Demokratie im 20. Jahrhundert.

Der Begriff des Staates der Zukunft ist noch nicht gefunden, deutlich aber ist der Übergang zum gewährleistenden, ermöglichenden, aktivierenden Staat am Beginn des 21. Jahrhunderts. Im Übergang von einer zur anderen Phase hat der Staat sein Selbstverständnis, seine Formen und Verfahren, seine Beziehungen zu den Bürgern verändert, auf eine neue Grundlage gestellt, die Grenzen der Staatlichkeit ausgeweitet und seine Qualität, über lange Zeit hinweg jedenfalls, verbessert.

Das konnte nur geschehen, und das ist mit Blick in die Zukunft entscheidend, weil Transformation nicht Ablösung, sondern Evolution bedeutet hatte: Die Entwicklung des Sozialstaates hat den Rechtsstaat nicht obsolet gemacht, sondern ganz im Gegenteil vielen Menschen "Rechte statt Almosen" gebracht, und die Gewerkschaften können sagen, sie sind dabei gewesen. Die demokratische Revolution hat den Sozialstaat nicht hinfällig gemacht, sondern ganz im Gegenteil ihn zum Wohlfahrtsstaat ausgedehnt, und die Gewerkschaften können sagen, sie sind dabei gewesen.

In ähnlicher Weise wird der Übergang in eine neue Form der Staatlichkeit, wie sie seit wenigstens fünfzehn Jahren, seit David Osbornes und Ted Gaeblers wegweisendem Buch "Reinventing Government" weltweit diskutiert und in vielen Ländern bereits praktiziert wird, die Demokratie und den Sozialstaat nicht obsolet machen, sondern ganz im Gegenteil beide stärken. Wo aber bleiben die Gewerkschaften?

Die Entwicklung geht in eine Richtung, in der die Definition der Ziele und Aufgaben sowie die Letztverantwortung beim Staat und bei den Kommunen verbleibt, die Ausführung der Aufgaben aber nach Fragen der Zweckmäßigkeit entschieden wird. "Steuern, nicht rudern", so haben Osborne und Gaebler die Rolle des Staates beschrieben. Die Gewerkschaften hätten die Chance (gehabt), zu den Motoren einer intelligenten Staatsdiskussion in Deutschland zu werden, in deren Mitte nicht wie bei Abmagerungskursen die quantitative Frage nach mehr oder weniger (Staat) gestanden hätte, sondern die qualitative Frage, wie denn der Staat seine Aufgaben am intelligentesten erfüllen könnte. Gerade wer aus welchen Gründen auch immer an einem handlungsfähigen Staat interessiert ist, sollte sich ganz vorne an der Spitze der Modernisierung des Staates bewegen.

Die neue Staatsdiskussion, wie sie hier nur angedeutet ist, wird nicht mehr von der Agenda verschwinden. Die finanziellen Restriktionen der öffentlichen Haushalte sind dabei nur der äußere Anlass. Wesentlich sind zwei andere Gründe, welche die Gewerkschaften eigentlich hellhörig machen müssten. Der eine kann durch eine simple Frage erschlossen werden: Haben wir in Deutschland gegenwärtig einen schwachen oder einen starken Staat?

Beides zugleich, kann die Antwort nur lauten, und darin liegt die ganze Misere. Was die Reichweite des Staates betrifft, lässt sich Deutschland von Wenigen nur übertreffen. Die Durchsetzungskraft hingegen endet oft (Eigenheimzulage, Entfernungspauschale) an der Schwäche des Staates und an der Stärke organisierter Interessen. So gleicht der Staat, wie wir ihn kennen, immer mehr einem kastrierten Kater: aufgedunsen, aber impotent.

Der andere Grund, der die Staatsreformdebatte in Schwung hält, lässt sich als einfache Frage formulieren: Löst der real existierende Staat die Aufgaben erfolgreich, für die er doch eigentlich da ist? Ein Blick auf die neue Unterschichtung der Gesellschaft, auf die soziale Vererbung durch das Bildungssystem, auf die Zahl der Arbeitslosen oder die Entwicklung der Familien und die Zahl der Kinder lässt nur eine bündige wie bittere Bilanz zu: Auf den bisherigen Wegen lässt sich die soziale Wohlfahrt der Menschen und der wirtschaftliche Wohlstand der Gesellschaft nicht mehren. Es liegt nicht an den Personen, es liegt an den Strukturen: Sie sind vielfach falsch programmiert.

Ob Gewerkschaften marginal werden oder nicht, wird davon abhängen, ob sie die neuen Realitäten als Ausgangspunkte für eine neue Nachfrage nach Gewerkschaften interpretieren und ihre Handlungsfelder entsprechend ausweiten. Es ist gerade die Entwicklung von Arbeit selbst, in der sich die Umbrüche manifestieren. Die Flexibilisierung von Arbeit überwindet - als Tendenz - die Scheidung von Arbeit einerseits und (privatem) Leben andererseits. Flexible Beschäftigungsverhältnisse heben die Prinzipien der Strukturierung der Arbeitsmärkte entlang von Betriebszugehörigkeit und Beruf auf.

In jedem Falle sind die Ansprüche an gute Arbeit und auch an ein gutes Leben "anspruchsvoller" geworden. Sie verbinden sich stärker als früher mit lebensweltlichen Dimensionen. Sinnperspektiven in der Arbeit gewinnen ein neues Profil. "Work-Life Balance" ist der Versuch, neue Qualitätsdimensionen von Arbeit und Leben gegenüber einem kurzsichtigen, betriebswirtschaftlichen und ökonomistischen Denken in Stellung zu bringen. Den Interessenbegriff erweitern und den Menschen auch dorthin folgen, wo sie ihr Leben jenseits des Betriebes leben, das ist das eine.

Die andere Aufgabe bestünde darin, ihr politisches und kulturelles Mandat zurückzuerobern, indem sie sich wieder sichtbar der ganzen Gesellschaft und ihrer Entwicklung zuwenden. Diese Dimension könnte man am Beispiel der "Bürgergesellschaft" gut illustrieren. An diesem Beispiel lässt sich aber auch zeigen, wie Gewerkschaften ihre Chancen nicht erkennen oder einfach am Rande des Spieles stehen bleiben.

Die Arbeiterbewegung und die bürgerliche Gesellschaft hängen auf enge und komplizierte Weise miteinander zusammen. Der Historiker Jürgen Kocka hat darauf hingewiesen, dass sich die bürgerliche Gesellschaft in Deutschland immer auch durch Ausgrenzungen definiert hat. Das gilt nicht zuletzt für die Bourgeoisie im 19. Jahrhundert, zu der eben nicht alle, sondern die Wirtschafts- und die Bildungsbürger gehörten. Erst die Demokratie kannte und brachte den Bürger im Sinne von Staatsbürger mit gleichen Rechten und Pflichten.

Jetzt könnte die Universalisierung dieser Idee vom Staat auf die Gesellschaft, von der nationalen Ebene in die lokale Politik und Gesellschaft hinein auf der Tagesordnung stehen: Demokratie nicht nur als staatliche Veranstaltung, sondern auch, wo immer möglich, als Selbstorganisation der Gesellschaft, als Einmischung der Bürger in ihre eigenen Angelegenheiten. Gewerkschaften, die den Wandel als Chance begreifen und sich konzeptionell und praktisch auf neue Herausforderungen und Handlungsfelder einlassen, könnten am Ende womöglich wieder Teil einer Reformbewegung werden, was sie in ihren Anfängen ja auch waren: Träger einer Kultur des Wandels, die nicht alten Zeiten nachtrauern, sondern die neuen gestalten.

Zum Weiterlesen

Oskar Negt: Wozu noch Gewerkschaften? Eine Streitschrift. Göttingen 2004
Guy Kirsch/Klaus Mackscheidt: Eine psychologische Ergänzung der ökonomischen Theorie der Politik. Oldenburg 1983
David Osborne/Ted Gaebler: Der innovative Staat. Wiesbaden 1997
Warnfried Dettling: Die Stadt und ihre Bürger. Neue Wege in der kommunalen Sozialpolitik: Grundlagen, Perspektiven, Beispiele. Güters

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